Montag, 30. Juli 2012

Erich Maria Remarque / Ein militanter Pazifist

Klappentext:

 Gedanken und Bekenntnisse eines unbequemen Autors, der sich zeitlebens gegen Krieg und Militarismus und für Menschlichkeit und Nächstenliebe engagierte. Die hier veröffentlichten Texte, Interviews, Anmerkungen zu eigenen Werken, Rezensionen und politische Aufsätze geben einen umfassenden Einblick in das Denken Remarques und sind zugleich Spiegel der Geschichte unseres Jahrhunderts.
"Ich dachte immer jeder Mensch sei gegen den Krieg, bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind, besonders die, die nicht hingehen müssen." (E.M. Remarque)



Autorenportrait aus dem Klappentext

Erich Maria Remarque, 1898 in Osnabrück geboren, besuchte das katholische Lehrerseminar. 1916 als Soldat eingezogen, wurde er nach dem Krieg zunächst Aushilfslehrer, später Gelegenheitsarbeiter, schließlich Redakteur in Hannover und Berlin. 1932 verließ Remarque Deutschland und lebte zunächst im Tessin/Schweiz. Seine Bücher “Im Westen nichts Neues” und “Der Weg zurück” wurden 1933 von den Nazis verbrannt, er selber wurde 1938 ausgebürgert. Ab 1941 lebte Remarque offiziell in den Usa und erlangte 1947 die amerikanische Staatsbürgerschaft. 1970 starb er in seiner Wahlheimat Tessin.

Da ich ein Fan von Remarque bin und schon einige Werke von ihm gelesen habe, habe ich mir alle Buchbestände von ihm angelegt, und ich alle seine Werke nach und nach zu lesen beabsichtige... . 

Gelesen habe ich von ihm:

1. Arc de Triumph
2. Im Westen nichts Neues
3. Der schwarze Obelisk

Remarque schreibt recht einfühlsam und psychologisch fundiert mit einer ausgeprägten Beobachtungsgabe.. . 

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„Die rechte Vernunft liegt im Herzen“ (Theodor Fontane)

Gelesene Bücher 2012: 55
Gelesene Bücher 2011: 86





Elsa Osorio / Mein Name ist Luz (1)



Eine Buchbesprechung der o. g. Lektüre

Gestern Nacht habe ich das Buch durchbekommen und es hat mir ganz gut gefallen... .

 Das Buch beginnt mit einem Prolog, und endet logischerweise mit einem Epilog. Im Prolog erfährt man, dass die junge Frau Luz Iturbes zusammen mit ihrer Familie in Spanien auf einer gewissen Suche nach einer männlichen Person namens Carlos Squirru ist, den sie wohl auch mit Hilfe von Nachforschungen findet. Carlos ist Argentiner, lebt aber seit über sechs Jahren in Spanien und möchte mit Argentinien nicht mehr viel zu tun haben... . Die Militärdiktatur der 70er Jahre aus dem letzten Jahrhundert hatte ihm stark zugesetzt, da er zu den Revolutionären gehörte und für eine bessere Welt und für eine gerechtere Gesellschaft kämpfte... . Wer Carlos Squirro ist lässt sich schnell vermuten, ich verrate es aber nicht... . 

Die vielen unterschiedlichen Erzählperspektiven, immer aus der Sicht der Person, die gerade berichtet, finde ich ein wenig gewöhnungsbedürftig... . 

Auf den ersten Seiten nach dem Prolog erfährt man über das Schicksal der Agentinierin Miriam Lopez, die, um sich eine Ausbildung als Mannequin zu finanzieren, sich prostituiert und lernt dort ihren Lebensgefährten El Bestia (übersetzt Bestie, Monster) kennen. El Bestia ist Leutnant beim Militär. Wie aus dem Klappentext hevorgeht, s. u., werden Säuglinge während der Militärdiktatur von ihren inhaftierten Müttern nach der Geburt weggenommen, und in wohlhabenden Familien übergeben, die kinderlos geblieben sind... . Die Kinder wurden den Müttern quasi gestohlen... . Die Mütter selbst wurden nach der Geburt des Kindes ermordet... . Die Säuglinge wurden von dem Militär wie Gegenstände, wie Kriegsbeute behandelt. Miriam sehnte sich nach einem Kind, nachdem sie  selbst keine Kinder bekommen konnte und bekam von El Bestia versprochen, ihr ein Kind aus dem Gefangenenlager zu beschaffen... . Sie sollte das Kind von der Gefangenen Liliana bekommen, auf das sie sich sehr freute und für das Kind alle Vorbereitungen traf, wie z.B. das Herrichten eines Kinderzimmers... .

Nun kommt es zu einer völlig anderen Wende, da El Bestias Vorgesetzter, Oberstleutnant Alfonso selbst an dem Kind von Liliana interessiert ist, da seine eigene Tochter Mariana eine Totgeburt erlitt und durch die schwere Geburt für eine längere Zeit im Koma lag, so dass Mariana gar nichts von der Totgeburt mitbekam und so wurde ihr später das Kind von Liliana als ihr eigenes untergeschoben... . 

In der Zwischenzeit wurde Liliana zusammen mit ihrem Säugling zu Miriam verlegt, damit das Kind gut versorgt werden und später an die unechte Mutter übergeben werden konnte... . Das Kind wurde von Liliane gestillt aber immer im Beisein von Miriam, da die Mutter die Augenbinde umhatte, die nicht abgelegt werden durfte...  . Zwischen Miriam und Liliane entwickelt sich eine geheime Freundschaft und Miriam erkennt plötzlich ihre Schuld, die feste Absicht gehabt zu haben, das Kind einer Mutter wegnehmen zu wollen und fühlte sich elend... . Miriam wird zu Lilianes Verbündete, die Mutter und Kind zur Flucht verhilft... . Dieser Abschnitt verlief in einer längeren Szene, bis es zur Flucht kam, die gut kalkuliert werden musste, da vor der Haustüre immer ein Wachposten stand... . 

Interessant fand ich auch die Romanfigur Pablo, der aus einer höheren Gesellschaftsschicht stammt, und der freiwillig auf den Wohlstand seiner Familie verzichtete. Pablo zog mit  seiner Lebensgefährtin Mirta, die recht arm war, in ein Elendsviertel um sich zu proletarisieren... . Zu seiner Volljährigkeit bekam Pablo von den Eltern ein Autor geschenkt, das er ablehnte, weil es ihm peinlich war ein Auto zu besitzen, wo es so viel Elend und Armut auf der Welt gibt und machte sich bei seinen Angehörigen unbeliebt... . Auch Pablo und seine Freundin gehörten zu den Revolutionären. Seine Schwester Dolores kämpfte gegen die politische Überzeugung Pablos, als müsse sie ihn davor schützen:

"Warum bist du so extrem? Kannst du nicht mit der Arbeiterklasse reden, ohne dich als einer von ihnen verkleiden zu müssen?". 

Dolores warf ihrem Bruder vor, dass seine politische Beteiligung mit einem Selbstmord zu vergleichen ist, sie kannte wohl die Gefahren der Gegner und stellte ihm die Frage, ob er das Leben nicht lieben würde:

"Es ist nicht so, dass ich mir nichts aus dem Leben mache. Wir kämpfen für das Leben, aber für ein Leben, das anders ist als im bürgerlichen System. Wir kämpfen für das Leben in einem umfassenden, besseren Sinn. Für ein würdiges Leben der ganzen, sich kollektiv verwirklichenden Menschheit."

Eine Diktatur, unabhängig davon, wie sie sich nennt, hat immer etwas mit willkürlichem Handeln und Verbrechen an die Menschheit zu tun. Die Herrschenden, in diesem Buch das Militär, haben das System in der Hand und sie bestimmen, wie sich eine Gesellschaft nach ihren Prinzipien zu bewegen hat. Man konnte aus den banalsten Gründen schon eingesperrt werden. Eine Mutter einer Schülerin wurde ins Gefängnis gesteckt, die nichts anderes getan hat:
als gemeinsam mit ihren Kameraden zu fordern, dass die Fahrpreise für die Schulbusse gesenkt werden sollten. Und dafür hat man ihr das Leben genommen.

Auch wenn der Roman eine Fiktion ist, zeigt er doch eine reale Abbildung davon, wie eine Diktatur funktionieren kann. Die Autorin ist Jahrgang 1952, ist Argentinierin, und hat wohl die  Militärdiktatur am eigenen Leib erlebt. Und genau diese Authentizität liest sich deutlich aus dem Buch heraus. Obwohl man immer wieder von einer Diktatur liest, ist es für mich trotzdem von neuem unfassbar, wie ein Menschenleben zerstört werden kann, in diesem Fall hier die protestierenden Mütter, wegen der Ermäßigung der Fahrpreise an Schulbussen.

Luz ist der Säugling von Liliana... . Der angebliche Vater Eduardo wehrte sich damals dagegen, doch er konnte sich nicht gegen seine Schwiegereltern durchsetzen, die sich in allen familiären Angelegenheiten einmischten und das Sagen hatten. Sein Schwiegervater Alfonso ist ein hohes Tier beim Militär und hat alle Fäden in der Hand, auch die seiner Familie. Eduardo wird dazu getrieben, sämtliche Dokumente des Kindes fälschen zu lassen… . Sein Gewissens war war dermaßen geplagt, dass er sieben Jahre später sich auf die Suche nach der wirklichen Mutter des Kindes begibt. Er hat selbst keine Ahnung, woher das Kind letztendlich stammte und befürchtet allmählich, dass es ein geraubtes Kind sei. Seine Recherchen werden von dem Schwiegervater strengstens unterbunden, doch diesmal widersetzt sich Eduardo ihm und begibt sich aber in Lebensgefahr, da die Reaktion des Schwiegervaters mafiose Strukturen annimmt... .  

Aber ich muss auch zugeben, dass dieses Szene, besser gesagt das Verhalten von Eldorado, ich als ein wenig naiv empfunden hatte. Erst empfand ich es als recht beeindruckend, dass er Mut aufbringen konnte, sich gegen sein Schwiegervater, was schon lange fällig war, sich ihm zu widersetzen aber die Art und die Taktik wie er dies  tat, hielt ich nicht für ausreichend klug... .

Luz ahnt später, dass ihre Herkunft Lücken und Rätsel aufweist und begibt sich auf die Ich-Suche. Später muss sie sich mit der Gewissensfrage plagen, ob auch sie nicht eine gewisse Schuld mitträgt, Eduardo, den sie als ihren Vater anerkennt, ihn weiterhin als ihren Vater zu bezeichnen, nachdem sie immer mehr von sich in Erfahrung bringen konnte???

Sie gerät in eine riesengroße Sinn und Identitätssuche und wird mit vielen Beteiligten aus der Zeit der Militärdiktatur konfrontiert, doch die meisten halten sich bedeckt. 

War Luz etwa schuld daran, dass sie für den Mann, der sie gestohlen hatte, Zuneigung empfand?

Mit dieser Gewissensfrage müssen sich alle Beteiligten aus der Zeit auseinandersetzten, auch die, die die Wahrheit gar nicht wissen möchten, wie zum Beispiel Mariana, die bis dato die vielen Verbrechen ihres Vaters Alfonso verleugnete, da sie ihren Vater stark idealisiert hatte. Sie negierte alle Verbrechen ihres Vaters, der in der Gesellschaft als "Hurensohn" betitelt wurde... .


Auch nach der Militärdiktatur werden die Verbrechen nicht gesühnt. 1987 wird ein neues Gesetz erlassen, das sich "Befehlsnotstand" nennt, und somit wurden alle Soldaten freigesprochen, die an den Grausamkeiten beteiligt waren, da sie nur  Befehle befolgten und sie nicht aus eigenem Antrieb handelten... . 

Als ich das Buch gelesen hatte, rechnete ich aus, wie alt ich in der Militärdiktatur Argentiniens selbst gewesen war. Ich war eine Jugendliche, und welches ungeheurere Glück ich doch gehabt haben muss, dass ich zwar zur selben Zeit aber an einem anderen Ort geboren wurde, wobei man eine Diktatur auch im Kleinen als Einzelschicksal im Privaten erleben kann, mit ähnlichen demütigenden und repressiven Formen. Z. B. lässt sich die Familie auch als ein Mikrostaat bezeichnen.. . (Und nicht nur Familie).

Und hier beende ich mein Gespräch zu dem Buch, da ich nicht zu viel verraten möchte, aber ich solidarisiere mich geistig mit allen Menschen, die auf dem selben Planeten leben wie ich, die aber tagtäglich um ihr Leben kämpfen müssen, um zu existieren.

Wie es mit Luz, Mirjam, Liliana, Pablo und wie sie alle heißen ausgeht, so verweise ich auf das Buch. Das Buch hat so viele Facetten, so viele unterschiedliche Reaktionen der Romanfiguren, dass meine Beschreibung hier im Block nur ein kleiner Teil des Ganzen ist.

Ich gebe dem Buch neun von zehn Punkten. Neun und nicht weniger: 1. Weil es sehr authentisch geschrieben ist und  2. Weil es bis zum Schluss die Spannung gehalten hat... . Neun und nicht zehn, weil mir die vielen unterschiedlichen Erzählperspektiven ein wenig unübersichtlich waren... .

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„Die rechte Vernunft liegt im Herzen“ (Theodor Fontane)

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Donnerstag, 26. Juli 2012

Elsa Osorio / Mein Name ist Luz



Klappentext

Systematisch wurden in den Jahren der argentinischen Diktatur (1976-1983) die Babys inhaftierter Regimegegnerinnen geraubt und von Militärs adoptiert. Viele Jahre später versucht eine junge Frau – Opfer dieser Praxis –, Licht in das Dunkel ihrer Herkunft zu bringen. Alle ihre inneren Kräfte muß Luz dabei aufbieten, um von den Schatten der Vergangenheit nicht erdrückt zu werden.
Einfühlsam und differenziert erzählt Elsa Osorio in ihrem Weltbestseller von dem aufrüttelnden Geschehen. Für Mein Name ist Luz, in sechzehn Sprachen übersetzt, wurde Elsa Osorio mit dem Literaturpreis von Amnesty International ausgezeichnet. Ihr Roman Im Himmel Tango ist 2007 im Insel Verlag erschienen.





Autorenportrait im Klappentext

Elsa Osorio wurde 1952 in Buenos Aires geboren und lebt seit 1994 vorwiegend in Madrid, wo sie als Journalistin, Dozentin und Drehbuchautorin für Film und Fernsehen arbeitet. Neben zahlreichen anderen Preisen wurde sie 1982 mit dem argentinischen "Premio Nacional de Literatura" für ihr Buch Ritos privados aus dem selben Jahr ausgezeichnet. Für Reina Mugra (1990) erhielt sie den "Premio Sociedad Argentina de Escritores" und 1992 für ihre Komödie Ya no hay hombres den Preis für das beste Drehbuch.
A veinte años, Luz (1998, dt. Mein Name ist Luz, 2000) ist ihr sechster Roman. Mit dem Thema der Kinder von "Verschwundenen" hat sie darin ein besonders düsteres Kapitel der südamerikanischen Militärdiktaturen aufgegriffen. Das Buch war Anstoß für viele weitere Nachforschungen, nicht nur in Argentinien.

Aufmerksam wurde ich auf das Buch durch ein Literaturforum... .

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„Die rechte Vernunft liegt im Herzen“ (Theodor Fontane)

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Mittwoch, 25. Juli 2012

Carlos Maria Domingues / Das Papierhaus (1)



Eine Buchbesprechung der o. g. Lektüre

Das Buch hat mir recht gut gefallen. Ich konnte mich sogar mit den Figuren indentifizieren; alles Bibliophile wie ich eine bin... .Es wird hier eher ein Erlebnisbericht erfolgen.

Auch die Figuren in der Erzählung können von dem reichlichen Bücherkauf nicht ablassen. Fühle mich gut zu lesen, dass es anderen auch so ergeht. Bei mir gehen oft ganze Monatsgehälter drauf :D. 

Ich kenne Leute, die jede Lektüre sorgfältig verbuchen, mit Tag, Monat und Jahr, sozusagen ein Kalender ihrer geistigen Erwerbungen führen.

Ich  habe auch gelernt, meine Bücher mit Daten zu versehen, allerdings erst, wenn ich sie gelesen habe... . Erst dann bekommt das Buch für mich den eigentlichen Wert. Und führe auch einen Archiv meiner gelesenen Bücher seit Aug. 2010. Die anderen Bücher vor dieser Zeit bleiben ungezählt... . 

 Andere schreiben ihren Namen auf die erste Seite und verleihen ein Buch erst, wenn sie den Empfänger mit Datum in ein Notizbuch eingetragen haben. Ich habe Bücher mit Stempeln wie in öffentlichen Bibliotheken gesehen und solche, in denen ein Kärtchen des Besitzers steckte. Niemand hat es gern, wenn ihm ein Buch abhanden kommt. Lieber verlegen wir einen Ring, eine Uhr oder unseren Schirm als ein Buch, das wir vielleicht nicht mehr lesen werden, das aber mit dem vertrauten Klang seines Titels ein altes, vielleicht verloren gegangenes Gefühl in uns wach ruft.

Ich fand den letzten Satz absolut treffend. Es beschreibt recht gut das innere Erleben, das uns die Bücher bescheren... .

Viele sind durch und durch Leser und stellen im Laufe ihres Lebens beachtlich Bibliotheken zusammen. Sie sind passioniert und imstande, einen Haufen Geld für ein bestimmtes Buch auszugeben, um für Stunden darin zu versinken und nichts anderes zu tun, als es zu studieren und zu verstehen. (...)
Wer sich eine Bibliothek aufbaut, der baut sich ein ganzes Leben auf. Sie ist nämlich nie die Summe ihrer einzelnen Exemplare.

Eine Erzählfigur nennt sich Delgado, der es bedauert, nicht so viel Zeit zum lesen zu haben, er aber trotzdem seine freie Zeit nicht ungenutzt lässt:

 Ich arbeite nämlich von acht Uhr morgens bis fünf Uhr nachmittags in einer verantwortungsvollen Stellung und kann es kaum abwarten, anschließend hierher zukommen, in meine Höhle (…), um bis zehn Uhr selige Zeit zu verbringen.

So ähnlich sieht bei mir der Alltag auch aus. Auch ich freue mich auf den Abend, um mich in aller Stille zurückzuziehen, um mich literarisch zu vertiefen... . Schön dies auch von anderen zu lesen... . 

Die Hauptfigur in der Erzählung ist für mich Carlos Brauer. Ein absoluter Büchernarr, der es mit seinem Papierhaus ziemlich weit treibt. Darauf komme ich später zu sprechen. Bevor er sich ein Papierhaus gebaut hatte, lebte er in einer Wohnung, wo selbst das Badezimmer mit Büchern bestückt war und er sich angewöhnt hatte, kalt zu duschen, um keinen Wasserdampf zu provozieren... . Er gewöhnte sich an die kalten Duschen, zu allen Jahreszeiten, nicht nur im Sommer. Und er verschenkte sogar sein Auto, um die Garage auch noch als Bibliothek umzufunktionieren.

Er war ein heißhungriger Leser und verbrachte nicht bloß vier Uhr, sondern den größten Teil des Tages und die ganze Nacht mit seinen Büchern. Seine Exemplare waren immer hoffnungsvoll geschrieben.

Bei mir sind es die Wochenenden, die ich bis tief in die Nacht hineinlese. Lästig finde ich die kleinen Alltagspflichten :D. Ohne sie könnte ich mich ganz der Lektüre hinbegeben... .  Ich markiere viele Textstellen, schreibe aber hinterher in mein Lesetagebuch meine Gedanken und Leseerfahrungen auf. 

Doch der arme Brauer hatte eine fürchterliche Plage. Silberfischchen, die ihn fast zum Wahnsinn trieben:

Er hatte Hunderte, vielleicht Tausende davon in seiner Bibliothek. Eine Zeitlang hat der Schadensbegrenzung betrieben indem er alle sechs Monate (…) einen Kammerjäger zum Ausräuchern in seine Wohnung schickte. Sie fingen nämlich an, ihm bedeutende Werke zu zerstören.

Wenn man die ganze Wohnung mit Büchern voll hat, dass die Wände keine Luft mehr zum Atmen haben, dann kann ich mir schon gut vorstellen, dass die Bibliothek als hervorragende Brutstätte  dienen für die unerbetenen Gäste.

Nun komme ich zu dem Papierhaus Brauers. Er zieht um, fährt mit seiner ganzen Bibliothek ans Ufer, um sich mit seinen Büchern ein neues Haus zu bauen. Er engagiert auch einen Maurer... .

Carlos hat den Maurer gebeten, die Pfosten für die Fenster und zwei Türen im Sand zu verankern und ihm aus Stein ein Kamin zu bauen. Als der Kamin auf der einen Seite stand, und Fenster und Türen abgestürzt waren, ließ er ihn Zement anmischen. Und dann-(…) seine Bücher als Ziegelsteine mit dem Zement zu verbauen.
Während der Mauer den Zement anrührte, machte Brauer sich, unter den teils mitleidigen, teils gleichgültigen Blicken des Mannes daran, aus dem Haufen der vom Pferdekarren in den sauberen weißen Sand gekippten Bücher diejenigen auszuwählen, die ihn vor Wind und Wetter schützen sollten.
Ich habe mir das häufig ausgemalt. Wie er hin und her gelaufen sein muss, während die Mauer immer höher wurde, dem Mann einen Borges für die Füllung unter dem Fenster reichte, einen Valejo für die Wand neben der Tür, einen Kafka für oben, einen Kant für die Seite und daneben ein gebundenes Exemplar von Hemingways in einem anderen Land; hierhin einen Cortazar und dorthin den stets voluminösen Vargas Llosa; einen Valle Inclan auf Aristoteles, einen Camus auf Morosoli, und Shakespeare im Mörtel brachte schicksalhaft mit Marlow verbunden; allesamt dazu erkoren, sich als Mauer zu erheben und Schatten zu spenden. (…) Wenigstens konnte er sagen: Sie bleiben meine Freunde. Sie bieten mir ein Dach über dem Kopf im Sommer Schatten. Sie schützen mich vor dem Wind. Die Bücher sind mein Haus. Das konnte ihm niemand nehmen, auch wenn seine Lebensumstände das rudimentäre Niveau erreicht hatten und er auf einem abgelegenen, einsamen Strand gelandet war, weil er die erhabensten Dimension des Buches kennenlernen durfte.

Wie das Buch ausgeht, verrate ich nicht. Für mich nimmt es ein trauriges Ende... .

Ich bin jetzt wenig auf die einzelnen Handlungen und Hintergründer der anderen Figuren eingegangen, da das Buch recht dünn ist und aus dem Klappentext schon reichlich hervorgeht... . Mir waren die Zitate sehr wichtig und meine Erlebnisse zu diesen...

Anmerkung: Textstellen mit Fettdruck wurden durch mich hervorgehoben!

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„Die rechte Vernunft liegt im Herzen“ (Theodor Fontane)

Gelesene Bücher 2012: 54
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Dienstag, 24. Juli 2012

Carlos Maria Dominguez / Das Papierhaus

  Klappentext

Eine Literaturdozentin, die so in die Gedichte von Emily Dickinson vertieft ist, dass sie tödlich verunglückt, ihr argentinischer Kollege, der um die halbe Welt reist, um das Geheimnis eines rätselhaften Buches zu lösen, und ein Mann, der bereit ist, seine Liebe für Bücher in Stein zu fassen: drei Menschen, die ohne Bücher nicht sein können und deren Leben auf höchst seltsame Weise miteinander verknüpft werden.



"Eine kleine Geschichte über die Leidenschaft für Bücher."
Elke Heidenreich 



Autorenportrait

Carlos María Domínguez wurde 1955 in Buenos Aires geboren und lebt heute in Montevideo, wo er als Journalist, Literaturkritiker und Schriftsteller arbeitet. „Das Papierhaus“, Domínguez' Deutschlanddebüt, wurde 2001 in Uruguay mit dem „Premio Lolita Rubial“ ausgezeichnet.

Das Buch habe ich von meiner Literturfreundin Anne geschenkt bekommen.
Ich selbst kenne den Autor nicht. Freue mich aber immer wieder,  neue AutorInnen kennenzulernen. 
Das Thema dieses Bandes spricht mich voll an, und gehe mit großer Neugier an das Buch heran. 
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„Die rechte Vernunft liegt im Herzen“ (Theodor Fontane)

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Gelesene Bücher 2011: 86




Montag, 23. Juli 2012

Orhan Pamuk / Istanbul (3)

Dritte von drei Buchbesprechungen zur o. g. Lektüre

In der Autobiografie wechselt des öfteren die Erzählperspektive, zwischen der Kindheit Pamuks, was ich auch toll finde, weil man dadurch mehr über das Zwischenmenschliche erfahren kann, und der Stadtbeschreibung, dass man manchmal den Eindruck bekommt, einen Reisebericht zu lesen. Richtig lustige Szenen werden erzählt und auch der Vater, der über einen antiautoritären Erziehungsstil verfügt, ist mir recht sympathisch durch seine Art, die  ungewöhnlich und nicht alltäglich ist... . Er bezeichnete seine Kinder nicht als seine Söhne, sondern als seine kleinen Brüder :D. Weitere Beispiele wurden im letzten Posting genannt .

Für eine interessante Persönlichkeit aus der Familie halte ich auch Pamuks Großmutter, die es wagte, als junge Frau Lokale zu betreten und Alkohol zu bestellen. Selbst im Alter traf sie sich in einer wohlhabenden Damengesellschaft ein und spielten gemeinsam rauchend leidenschaftlich Poker und konsumierten Schnäpse... :D.

Lustig finde ich auch die Schulszene, wenn sie auch recht ernst ist, und störende Kinder bestraft werden und sich in die Ecke stellen müssen, und dazu noch auf einem Bein :D. Weil das die Aufmerksamkeit der anderen Kinder erregte, weil jeder neugierig wurde, wie lange der Sträfling es auf einem Bein aushalte, wurde diese Maßregel wieder abgeschafft.... .

Dann die sog. lustigen Benimmregeln, die mich recht amüsierten. "Laufen Sie nicht mit offenem Mund durch die Stadt." Diese wurden von Stadtbriefschreiber in der hundertvierzigjährigen Geschichte Istanbuls auf einer Kolumne inseriert.

Der berühmte französische Schriftsteller Victor Hugo soll des öfteren im Obergeschoss eines Pferdeomnibus durch ganz Paris gefahren sein, um seine Landsleute zu beobachten. Gestern haben wir es ihm gleichgetan und dabei feststellen müssen, dass viele Istanbuler auf der Straße dahinmarschieren, ohne auf die anderen die mindeste Rücksicht zu nehmen, dass sie ihre Fahrscheine, ihre Eistüten und ihre Maiskolben einfach auf den Boden werfen, dass die Fußgänger auf der Straße unterwegs sind und die Autos auf den Gehsteigen und dass die Leute nicht aus Armut, sondern aus Dummheit und Faulheit herzlich schlecht gekleidet sind." (1952)
" Wenn wir draußen auf der Straße nicht kreuz und quer herumlaufen würden, wie es uns gerade in den Sinn kommt, sondern uns so, wie es in Europa üblich ist, an die Verkehrsregeln hielten, dann hätten wir nicht ein so furchtbares Durcheinander. Aber da stellt sich schon mal die Frage, wer in dieser Stadt die Verkehrsregeln überhaupt kennt…" (1949) 

Auch hier wieder eine komplette Idealisierung der westlichen Welt, denn auch in Europa gibt es Länder, die keine Verkehrsregeln beachten.

Und nun noch ein ganz lustiges Zitat, klingt für mich ein wenig satirisch:
"Die Saison hat begonnen, und unsere Regenschirme sind auch glücklich aufgegangen, aber können wir damit auch so umgehen, dass sie uns nicht gegenseitig die Augen ausstechen, dass wir nicht wie im Autoscooter permanent aneineinander stoßen und wegen unseres beschränkten Gesichtsfelds den Gehsteig unsicher machen wie Treibminen?" (1953)

Nun habe ich noch etwas mehr zu Flaubert und seine Reise nach Istanbul in Erfahrung bringen können... . Flaubert, der der französischen Gesellschaft überdrüssig war, er verachtete die Spießbürgerlichkeit, den geregelten bürgerlichen Lebensablauf der Franzosen, kam nach Istanbul und hatte Syphilis. Obwohl er diese ansteckende Krankheit mit sich trug, suchte er ein Bordell auf. Da die Mädchen ihm dort nicht anziehend und sauber genug erschienen, bedrängte die Puffmutter ihre eigene Tochter, die sich erst weigerte, mit Flaubert sexuell zu verkehren, so verlangte sie schließlich von ihm, ihr seinen Penis zu zeigen. Um seine Wunde für sich zu behalten, tat er so, als sei er beleidigt, und zog ab. Und so hatte das Mädchen ein richtiges Gespür und ich frage mich, ist das der Flaubert, den ich literarische kenne :D, und der bewusst das Mädchen angesteckt hätte und sie gesundheitlich gefährdete, damit er sein Vergnügen gehabt hätte?... . Dies halte ich schon als äußerst kriminell. Heute kann man dafür belangt werden und ein hohes Schmerzensgeld einklagen... . 

 Flaubert bereiste zudem Kairo, ging in das dortige Krankenhaus, und ließ sich Syphiliskranke zeigen, die vor ihm die Hose runter ließen, weil er die Krankheit, von der er selber betroffen war, studieren wollte... . Ziemlich grotesk, finde ich :D.

 Flaubert war mit dem Ziel in den Orient aufgebrochen, nicht nur schöne Landschaften zu erblicken, sondern auch die Krankheiten und die Seltsamkeiten anderer Leute, doch die eigene Krankheit und Seltsamkeit, die er dabei abbekommen hatte, wollte er keineswegs zur Schau stellen. In dem glänzenden Werk "Orientalist", das man in Istanbul leider nur liest, um im Nationalgefühl zu baden und sich wieder einmal bestätigen zu lassen, wie schön doch der Orient ohne die Europäer wäre, geht Edward Saar liegt sehr einfühlsam auf (…) Flaubert ein und erwähnt die Krankenhausszene in Kairo, nicht aber die ergänzende Begebenheit in dem Bordell in Istanbul. Dabei wurde die Syphilis (die ihren Ursprung anscheinend in Amerika hatte) sowohl von den europäischen Reisenden als auch von den türkischen Nationalisten die" französische" Krankheit genannt, wie man ja Krankheiten überhaupt gerne anderen Zivilisationen anlastet.

Manche Thermen in dem Buch erinnern mich an westliche Autoren. Pamuk kritisierte die reichen Türken, die ohne ihr Zutun einfach reich waren und nicht arbeiten mussten und so ziemlich geistlos lebten. Ich dachte dabei an Marcel Proust, BD 3 "Die Guermantes". Viele Aristokraten, die ihre Zeit mit Gesellschaftgeben und sich über andere das Maul zerrissen und dadurch so viel Zeit verplemperten, und nur wenige zeigten Interesse an höherwertigen Themen, wie z.B. der Kunst. Pamuk sprach von einer inneren Leere jener wohlhabender Leute... . Viele Reiche gingen auch keinem Glauben nach, waren eher bemüht, westlich zu leben, und belustigten sich über die armen Leute, die aufgrund ihres harten Lebens wohl eher auf Gott angewiesen wären. Pamuk hat es so schön beschrieben, dass die Reichen auch die Wahl gehabt hätten, an Gott zu glauben, aber sie brauchten Gott nicht, um gut zu leben :D... . Es gab aber auch Reiche, die total traditionell islamisch lebten, die den Reichtum allerdings anders bewerteten, als die reichen nichtgläubigen Türken... . 

Pamuks Gottesbild ist das einer Frau. Einer älteren Frau im weißen Gewand, deren Gesicht aber nicht deutlich zu sehen ist... . 

Dass ich mein Bild von dem weiß gewandetem, ehrwürdigen Gott nicht weiter entwickelte und in meiner Beziehung zu ihm nicht über ein mit Vorsicht gepaartes Desinteresse hinaus kam, lag sicherlich auch daran, dass niemand zu Hause mir in dieser Hinsicht irgendein Unterweisung gab. Wahrscheinlich wussten sie mir schlicht nichts beizubringen, denn von den Familienmitgliedern sah ich nie jemanden beten oder fasten. Es lebten alle dahin wie die französische Bourgeois, die sich von der Religion zwar weit gehend gelöst haben, aber von einer endgültigen Abrechnung damit dennoch zurückschrecken.

Auch Pamuk machte sich über Gläubige lustig, versuchte als Junge die Haushälterin vom Beten abzuhalten, und als sie ihm drohte, dass seine Finger, mit denen er ihr mitten im Gebet am Kopftuch zog, zu Stein werden ließ, so wagte er es ein weiteres Mal und bekam die Bestätigung über die Nichtexistenz Gottes, da seine Finger so blieben wie sie waren :D.
Solange arme und geplagte Menschen mit ihrem hartnäckigen Bemühen Gott in Erinnerung bringen wollten, dass sie hilfsbedürftig waren, störte mich und meine Familie das nicht weiter, ja wir waren sogar froh, dass sie außer uns noch jemand anderes hatten, auf den sie bauen konnten. Es nagte lediglich die Befürchtung an uns, jener Gott hätte eines Tages von denen, die nicht so waren wie wir, als gegen uns gerichtete Kraft verwenden werden.
Interessant finde ich auch, dass nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches Istanbul zwischen zwei Stühlen steht, da das Land sich seit dem in einen "Verwestlichungsprozess" begab, der bis heute noch nicht abgeschlossen ist. Zerrissen zwischen Moderne und Tradition, zwischen Europa und Orient, ist heute noch deutlich zu spüren, wie dies an dem Stadtbild Istanbuls zu sehen ist, wenn man auf deren Gassen flaniert. Gegensätze ohne Ende... . Aber das macht ja das Bild so interessant. Nach sechshundert Jahren islamischer Geschichte ist es nicht zu verwundern, wenn die Türkei in vielen Gebieten noch islamisch geprägt ist, ist ja bei uns ähnlich, da ja viele Christen nach dem rückständigen Mittelalter auch nicht aufgehört haben, sich als Christen zu bezeichnen :D.

Pamuk glaubte nicht an einen strafenden Gott, vor wem er sich mehr fürchtete, waren die strengen Gläubigen, die ihren Zorn auf Menschen wie ihn richteten. 

Ich frage mich auch oft, was ist das für ein Gott, der Menschen so stark maßregeln und bestrafen muss? Ist er, sollte es ihn geben, nicht eher jemand mit unendlicher Güte und Liebe zu charakterisieren? Es sind jene Menschen, die sich nach solch einen strafenden Gott sehnen, weil sie im Grunde Menschen verachten, die anders leben... . 

Politisch herrscht auch in der Türkei die Trennung von Staat und Kirche und so ist Religion Privatsache jedes einzelnen Menschen geworden.
 

Die arabische Schrift abzulegen und zur lateinischen überzuwechseln, finde ich schon ein reisen Sprung... . Um von der westlichen Welt anerkannt zu werden, hatte sogar Atatürk (seit 1922) eine westliche Kleiderordnung vorgeschrieben... . Viele europäische Schriftsteller, besonders Franzosen, würdigten die aus dem Islam geprägten Kleider total herab... .

Pamuk störte sich an den zu hohen Anpassungsdruck:
Wie kommt es, dass die Melancholie und der "hüzün" darüber, dass das Osmanische Reich zerfallen und Istanbul dabei war, seine Seele an den Westen zu verkaufen?
Interessant fand ich das düstere Stadtbild, völlig heruntergekommen und verarmt und trotzdem hat Istanbul ein Gesicht, eine eigene Seele, ein eigenes Leben, wie der Autor sich ausdrückt. Nur wenige Schriftsteller waren aber in der Lage, die Seele der Stadt zu erblicken bzw. diese zu ergründen. Die meisten waren nur außenorientiert, sahen außer der Fassade nichts anderes und desto abwertend fielen dann die Reiseberichte aus... . Mich ziehen ehrlich gesagt solche dunklen Städte und Dörfer total an, weil sie mehr zum Ausdruck bringen als Gegenden, die nur mit Villen bestückt sind und wie geleckt aussehen :D. 

Diese heute größtenteils verschwundene melancholische Baufälligkeit war zu meiner Kindheit schlichtweg die Seele Istanbuls. Dass es aber zu einer "Entdeckung" dieser Seele kam, dass man plötzlich fand, sie sei schön und ein "grundlegendes Merkmal", das vollzog sich auf recht verschlungen Wegen voller Zufälle und Gegenreaktionen.
Franzosen, die recht abfällig und als ein rückständiges Istanbul sich äußerten, obwohl die Stadt schon damals recht vielsprachig und mutlikulturell belebt war, sprachen außer ihrer eigenen Sprache keine andere und weist auf ihren eigenen Nationalismus und auf eine Verherrlichung ihrer eigenen Kultur hin :D . Es ist immer einfach mit den eigenen Maßstäben zu reisen, und den anderen Ländern mit einem gehobenen Zeigefinger zu begegnen. Solche Reisenden sollten besser zu Hause bleiben, da wo es sich doch sowieso besser lebt als anders wo.

Pamuk selbst identifizierte recht stark mit Istanbul, das durch seine Baufälligkeit und seine Düsternis etwas Melancholisches in sich verbarg und klagte über eine innere, seelische Zerrissenheit bei sich selbst und bei der Stadt, die er als nichts Ganzes und nichts Halbes beschreibt. Sie sei nicht mehr orientalisch aber auch nicht westlich. Eine unfertige Stadt, unter der er litt. 
Bei Leuten wie mir, die in Istanbul mit einem Bein in der einen Kultur und mit dem zweiten in einer ganz anderen leben, ist dieser "westliche Beobachter" nicht unbedingt eine echte Person, sondern vielleicht eine Fiktion, ein Traum, eine Selbsttäuschung.
Erst bewunderten die jungen Leute in Istanbul Amerika, aber gleichzeitig wurden sie auch desillusioniert, da die Amerikaner sich durch den Atomkrieg in Hiroshima 1945 und durch den Vietnamkrieg 1968 schuldig machten. Auch hier entsteht eine Zerrissenheit zwischen Idealisierung und Abwertung... .

Ich denke, dass diese Zerrissenheit, unter der Pamuk so sehr leidet, nach sechshundert Jahren Osmanischer Geschichte normal ist. Es benötigt einfach sehr viel Zeit, bis eine neue Verwandlung als Ganzes abgeschlossen ist... .

Aber was heißt schon Verwestlichung? Auch der Westen lebt Multukulti, auch der Westen ist geprägt von verschiedenen Religionen und Nichtgläubigen und so eine einseitige Welt existiert nur in der Vorstellung von Menschen, die Vielfältigkeiten und Differenzen nicht vertragen können... . 
Ich bin  sicher, dass auch der Islam seine Stärken hat. Und dass auch der Islam von einem gütigen Gott spricht... . Es kommt darauf an, welche Dogmen daraus gesponnen werden, und den Menschen starke Vorschriften machen. 

Als eine Tierschützerin muss ich auch dies einbringen:

Auf den Straßen Istanbuls grassierte auch eine Horde von Straßenhunden. Statt diese zu töten wurden sie auf die unbewohnte Insel Sivriada verfrachtet, doch die Hunde fanden immer wieder in die Stadt zurück :D.

Zum Schluss hin ging es nochmals darum, dass Pamuk gespalten war, was seine berufliche Laufbahn betraf. Als großer Melancholischer, wie schon gesagt bezeichnete er die Stadt selbst  auch als melancholisch, als "hüzün", fühlte er sich dadurch immer mehr der Malerei hingezogen. Zum einen wollte er Maler werden, zum anderen sollte er Architektur studieren. Er war zwar schon an der Technischen Universität in Istanbul eingeschrieben, aber er haderte immer wieder mit dem Studium und war oft nah dran abzubrechen. Die Mutter warnte ihren Sohn immer wieder, da in der Türkei Künstler nicht gut angesehen seien, anders in Europa, wo aber auch nur die Besten durchkämen... . Auch die Mutter idealisiert  stark Europa, was bei vielen Türken der Fall war, die bestrebt sind, sich westliche Standards anzueignen. In Europa wird die Kunst zwar geliebt, doch auch dort wollen Eltern, nicht anders wie in der Türkei, dass ihre Sprösslinge etwas Handfestes lernen. 

Aus der weiteren Recherche geht hervor, dass Pamuk das Architekturstudium abgebrochen hat, aber Politikwissenschaften studierte und zum Journalismus überwechselte... . 

So, hier mache ich mal Schluss. Ich möchte nur noch erwähnen, dass ich viele andere Punkte, die auch wichtig waren, aber des Umfanges wegen unerwähnt lassen musste.

Zu Erinnerung: Ich führe keine literaturwissenschaftliche Diskussion, sondern ein Lesetagebuch fragmentarischer Art... . Ich habe von meinen Eindrücken geschrieben, mehr nicht. Ich möchte andere LeserInnen ermutigen, das Buch selbst zu lesen!


Mit dem gelesenen Buch habe ich ein wichtiges Ziel erreicht, in dem es mir die Welt in Istanbul nahe gebracht hat und ich viel von dem Autor Orhan Pamuk lernen durfte. 

Ich freue mich auf ein weiteres Buch von ihm, das noch ungelesen im Regal steht. 
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„Die rechte Vernunft liegt im Herzen“
(Theodor Fontane)

Gelesene Bücher 2012: 53
Gelesene Bücher 2011: 86




Donnerstag, 19. Juli 2012

Orhan Pamuk / Istanbul (2)




  Zweite von drei Buchbesprechungen der o. g. Lektüre


So, habe weitere fünfzig Seiten geschafft, und das Thema fokussiert sich auf die Stadt Istanbul... , wie ja auch aus dem Buchtitel hervorgeht. Interessant finde ich, wie Pamuk die Stadt erlebt hat, und beschreibt sie mit einem Hauch von kafkerischem Ambiente. Er erlebte Istanbul wie in einer schwarz-weißen Facette, dunkel, düster, verfallene Konaks, ermattet, ärmlich und die Menschen hüllten sich größtenteils in dunkle Gewänder... .

Zum einen liegt das Schwarzweiß Gefühl natürlich an der Armut der Stadt und daran, dass ihre historischen Schönheiten nicht herausgeputzt und zur Geltung gebracht werden, sondern unbeachtet verwittern und verfallen. Ein anderer Aspekt ist aber, dass die osmanische Architektur selbst zu Zeiten höchster Prachtentfaltung erstaunlich schlicht war. Dass die Istanbuler mit ihrem Leiden an vergangener Herrlichkeit trotz der geographischen Nähe zu Europa zu einer Art ewiger Armut verdammt sind, als litten sie an einer unheilbaren Krankheit, trägt dazu bei, dass die Stadt so sehr in sich gekehrt ist.

 Interessant fand ich auch zu lesen, dass Gustav Flaubert, der zweihundert Jahre vor Pamuk gelebt hat, mal die Absicht hegte, nach Istanbul zu ziehen... . Istanbul ist schon eine Stadt gewesen mit vielen Sehenswürdigkeiten, aber es wurde nichts dafür getan, diese zu erhalten... . Sie drohte in der Düsternis zu ertrinken... .

Orhan Pamuk / Istanbul (1)




Eine von drei Buchbesprechungen der o. g. Lektüre


Habe jetzt schon ein paar Seiten in der Autobiografie gelesen und sie gefällt mir recht gut und hoffe, dass es auch so bleibt, da ich ja noch über sechshundert Seiten vor mir habe... .

Anfangs geht es um die frühe Kindheit des Autors, der in Istanbul geboren wurde, und er die Stadt als heruntergekommen beschreibt. Zu seiner frühen Kindheit gehörten streitende Eltern, später haben sich die Eltern sogar scheiden lassen, wie aus dem Klappentext hervorgeht, wobei Pamuks Vater ein richtiger Optimist war. Früh vermittelte er seinem jüngeren Sohn das Gefühl, dass "die Welt ein Ort (sei), in der die Menschen kommen, um glücklich zu sein".

Nun ja, wenn ich das Elend in der Welt mir anschaue, die letzte Lektüre hat mich erneut mit der Nase darauf gestoßen, dann kann man schlecht daran glauben, wenn mir auch diese Vorstellung trotzdem mehr als sympathisch ist. In die Welt kommen, um glücklich zu sein, ist aber wie eine Desillusion, wem dieses Glücklichsein nicht gelingt, weil dieser Mensch in einer Hölle geboren wurde.

Zu seiner frühen Kindheit auch die Großfamilie, wobei Pamuk selbst aus eine vierköpfigen wohlhabenden Kleinfamilie stammt, daraus geht auch ein um zwei Jahre älteren Bruder hervor... Die Großfamilie lebte zusammen in einem mehrstöckigen Haus. Auf jeder Etage wohnte eine Familie. Und überall wurden die Wohnzimmer als gleich beschrieben und mit einem Museum verglichen. Porzellan, Zuckerdosen ... füllten reichlich die Schränke, die Wände und auf den Schränken waren jede Menge Familienportraits positioniert und auf jeder Etage befand sich ein bis zwei Klaviere, auf die keiner spielte :D. Das ist ja für mich wie eine Wohnung voller Bücher, die niemand gelesen hat. Aus meiner Sicht ein Verrat an die Bücher, Verrat an die AutorInnen, ein Verrat an die Klaviere, Verrat an die Musik, die nie gespielt wurde... .

Und trotzdem gefällt mir die Art, wie Pamuk dies alles beschreibt. Er erlebte jede Wohnung anders, als betrete er eine völlig andere Welt, ein völlig anderes Land, obwohl sich die Wohnungen, wie schon gesagt, so sehr im Mobiliär und in der gesamten Ausstattung ähnelten. Auch diese Vorstellung, jede Wohnung sei ein anderes Land, finde ich recht sympathisch... .


Orhan Pamuk / Istanbul




  Klappentext

Ein fesselnder Liebesroman mit Istanbul in der Rolle der Geliebten.
Orhan Pamuk ergründet in »Istanbul« die Geheimnisse seiner eigenen Familie und die seiner Kindheit. Er führt uns an berühmte Monumente und die verlorenen Paradiese der sagenumwobenen Stadt, zeigt uns die verfallenden osmanischen Villen, die Wasserstraßen des Bosporus und des Goldenen Horns, die dunklen Gassen der Altstadt. Pamuk verbindet auf eindringliche Weise Schilderungen von Menschen und Orten und setzt allen ein unvergessliches Denkmal.

Autorenportrait

Orhan Pamuk, 1952 in Istanbul geboren, studierte Architektur und Journalismus und lebte mehrere Jahre in New York. Für seine Romane erhielt er 1990 den Independent Foreign Fiction Award, 1991 den Prix de la découverte européenne, 2003 der International IMPAC Dublin Literary Award, 2005 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und in demselben Jahr den Ricarda-Huch-Preis, 2006 den Nobelpreis für Literatur und 2007 die Ehrendoktorwürde der FU Berlin als »Ausnahmeerscheinung der Weltliteratur.«

Der Klappentext hat mich total angesprochen. Entdeckt habe ich das Buch in der genialen Bahnhofsbuchhandlung in Frankfurt Main. Die Buchhandlung dort ist recht gut sortiert, man findet Bücher, die man nicht erst bestellen muss... . Anders als hier in Darmstadt, wo wir doch zwei Riesenbuchhandlungen besitzen wie Hugendubel und Thalia. Trotzdem können sie mit Frankfurt einfach nicht mithalten... .

Das Buch ist eine Autobiografie und freue mich, etwas mehr über die Kultur vor Ort zu erfahren... .

Mittwoch, 18. Juli 2012

Wajidi Mouawad / Verbrennungen (1)



 Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Das Theaterstück habe ich gestern Abend zu Ende gelesen und es hat mir recht gut gefallen. Sagen wir mal so, es hat mich recht betroffen gemacht... .

Das Stück liest sich gar nicht wie ein Theaterstück, sondern wie ein Film. Total authentisch und lebendig geschrieben ist es. Es ist sehr ausdrucksstark geschrieben. Gewalt kennt  keine Grenzen... .

Daher ist der Inhalt recht heftig, stimmt traurig, ohnmächtig durch die Gewalt in jeglicher Form, Opfer-Täter - alles vertauscht..., Bürgerkrieg, Krieg unter den Zivilisten, selbst in Familien sind die Systeme oftmals korrupt... aber weggucken bringt auch nichts, und so habe mich angestrengt, den Inhalt geistig auszuhalten und mitzugehen mit den Figuren, mit den Menschen, die sich diese Welt nicht selbst ausgesucht haben und sie diese trotzdem life erleben müssen. Wenigstens möchte ich mich geistig mit diesen Menschen solidarisieren, die gegen solche Systeme sind, solidarisieren mit den Kindern, die zu Kriegsopfern gemacht werden, kaum dass sie geboren wurden... . Unschuldige Menschen, die keinen Ausweg aus dieser Welt finden, ständig müssen sie um ihr Leben bangen. Für diese habe ich Mitgefühl und möchte aus diesem Grunde nicht weggucken, sondern geistig mit ihnen gehen... .

Am Anfang geht es um ein junges Mädchen namens Nawal, die auch die Protagonistin des Stückes ist. Nawal wird mit vierzehn Jahren schwanger  und sowohl sie als auch ihr Geliebter wollen das Kind unbedingt zur Welt bringen. Die beiden jungen Menschen fühlen sich stark zueinander hingezogen und das Kind würde ein Kind der Liebe sein... . Doch die Mutter des Mädchens fordert von ihr, das Kind nach der Geburt sofort an die Hebamme abzugeben, oder aber sie solle auf der Stelle alle Kleider abwerfen, und nackt das Dorf verlassen. Die Nacktheit steht dafür, dass das Mädchen arm und besitzlos ist und macht die Abhängigkeit von den Eltern deutlich. Die Kleider sind Eigentum der Eltern... . 
Nawal war also gezwungen, bei den Eltern zu bleiben und das Kind nach der Geburt abzugeben. Wo hätte sie denn gehen können? Ihr Freund wurde des Landes vertrieben und sie als ein junges, schwangeres Mädchen hätte draußen keinerlei Überlebenschancen... . 

Das Mädchen hörte auf zu sprechen, nachdem sie das Kind geboren hatte und die Hebamme es weggetragen hat... . 

Irgendwann begibt sich Nawal auf die Suche nach ihrem Kind und erlebt auf ihrem Weg viel Gewalt, es herrscht noch immer Bürgerkrieg. Ihrer verstorbenen Großmutter Nazir hatte Nawal versprochen, Lesen, Schreiben, Rechnen und Denken zu lernen, da Bildung die stärkste Waffe sei, und mit Hilfe dieser den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen... . Die Großmutter war die einzige, die zu Nawal hielt, auch wenn sie die Wegnahme ihres Kindes nicht verhindern konnte... .

Es ist nicht klar, in welchem Land sich diese vielen Kriegsszenen abspielen, aber man ahnt, dass es ein arabisches Land ist, auch weil der Autor selbst aus einem arabischen Staat stammt, s. Autorenportrait im letzten Posting. 

Interessant finde ich die verschiedenen Erzählperspektiven... . Oftmals werden Gegenwart und gleichzeitig Vergangenheit in einem Satz dargestellt... . Man muss im Kopf viel verknüpfen und Parallelen schaffen sowohl zu den Figuren, die in verschiedenen Zeitabständen auftreten, als auch zum zeitlichen Geschehen, aber das macht es ja so interessant zu lesen. Eine völlig andere Schreib- und Erzählkultur... . 

Mal tritt Nawal als junges Mädchen auf, dann als eine reife Frau und mal wieder als eine alte Frau. Nawal hat zwei Zwillingkinder, ein Junge, Simon, und ein Mädchen, Jeanne, beide schon erwachsen und hadern nach dem Tod ihrer Mutter mit ihr, werfen ihr vor, sie habe sich nie für ihre Kinder interessiert. Nawal hüllte sich die meiste Zeit ihres Lebens in
 Schweigen. Als Nawal verstarb, bekommen die Zwillinge von dem Notar mehrere Umschläge ausgehändigt, die ihnen Aufgaben stellten. Die Kinder gehen auf Spurensuche, müssen das tun, wenn sie die Aufgaben der Umschläge einlösen wollen... . Sie reisten in das Land der Mutter, da eine der Aufgaben war, den Bruder, das war der Erstegeborene, den Nawal mit 15 Jahren zur Welt brachte, zu suchen. Die Zwillinge kamen zwanzig Jahre später auf die Welt... . Die andere Aufgabe war die, den Vater zu suchen... .

 Während der Suche erfuhren Jeanne und Simon, dass ihre Daten auf der Geburtsurkunde nicht richtig waren, und dass ihr Vater nicht der Vater war, der kurz nach ihrer Geburt heldenhaft gestorben sein soll, und auf dem sie so stolz waren, nein, deren Vater war ein ganz anderer. Jemand, den sie gar nicht kennen. Nawal täuschte ihnen eine andere Identität vor, um die Kinder mit ihrer Herkunft nicht zu belasten. Doch kurz vor dem Tod erkannte sie, dass man die Gewalt nur bekämpfen könne, wenn man sich der Vergangenheit und der Herkunft stellt, und alle Hintergründe ausforscht und erfährt. Und diese Bürde trug Nawal nun ihren Kindern auf. 


Jeanne und Simon finden, was sie suchen sollten. Sie finden die Wahrheit, mehrere grausame Wahrheiten, eine davon ist, dass ihr Bruder gleichzeitig ihr Vater ist... Nawal wurde in ein Kriegsgefängnis eingesperrt und gefoltert. Der Folterer war gleichzeitig ihr Vergewaltiger. Der Vergewaltiger war Nawals Sohn. Aber niemand von beiden, weder Mutter noch Sohn, wussten voneinander. Und so sind aus der Vergewaltigung Jeanne und Simon entstanden... .

Die Zwillinge erfuhren auch, dass sie zu einer völlig anderen Zeit geboren wurden, und man sie zu ertränken beabsichtigte, wie man dies dort mit vielen Säuglingen tat… . Simon verstand nun endlich, weshalb die Mutter sich in Schweigen hüllte. Es waren die vielen Traumata, die sie erlebte... .

Wiederholt bekunde ich meine geistige Solidarität mit Waisenkindern, die dort zu Kriegszwecken geplündert und in die Luft gesprengt wurden... . Solidarität mit den Frauen, die von ihren Familien ausgestoßen wurden... . Solidarität mit den Kindern, die ertränkt, obwohl sie aus Liebe gezeugt und geboren wurden... . Solidarität mit den Kindern, deren Väter sie unter der Vergewaltigung zeugten... . Solidarität mit all den Menschen, die sich nicht für die Gewalt und die brutale Ermordung ihrer Mitmenschen entschieden haben... . Solidarität mit jedem Widerstandskämpfer... ... . Solidarität mit allen Flüchtlingen... . Solidarität mit allen Menschenrechtskämpfer... . Solidarität mit allen Toten, die zu Unrecht gemordet wurden... . . Solidarität mit den übrigen Menschen, die ich noch vergessen habe... . 

Es gibt nur einen Planeten Erde, und jeder Mensch ist ein Nachbar... .

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„Die rechte Vernunft liegt im Herzen“ (Theodor Fontane)

SuB:

Amin: Der Klang der Sehnsucht
Frank: Rücken an Rücken
Lenz: Die Masken
Leroux: Das Phantom der Oper
Manguel: Die Bibliothek bei Nacht
Mann. T. Erzählungen (1)
Miin: Madame Mao
Obrecht: Die Tigerfrau
Osorio: Mein Name ist Luz
Pamuk: Istanbul
Senger: Kaiserhofstr. 12
Thackeray: Das Buch der Snobs

Gelesene Bücher 2012: 52
Gelesene Bücher 2011: 86

Montag, 16. Juli 2012

Wajidi Mouwad / Verbrennungen

124 Seiten
Verlag der Autoren
ISBN: 978-3-88661-299-4

                    10.00 €

Klappentext

 Mouawad erzählt, wie die Geschwister Jeanne und Simon die Vergangenheit ihrer Mutter Nawal erkunden, die vor dem Krieg im Nahen Osten in den sicheren Westen geflohen war. Nawals letzter Wille überträgt den Zwillingen die Aufgabe, zwei Briefe zu übermitteln: einen an ihre tot geglaubten Vater, den anderen an einen unbekannten Bruder. Widerwillig nehmen die Beiden die Reise in die Heimat ihrer Mutter auf sich. Die Suche nach den eigenen Wurzeln führt sie in die kollektive Tragödie des Krieges zurück.

Autorenportrait

 geboren 1968 in Deir-el-Kamar (Libanon), lebt in Montreal und Paris. Der Theatermacher und Schauspieler musste sein Heimatland mit acht Jahren verlassen, wuchs in Frankreich auf und emigrierte 1983 nach Kanada, weil ihm Frankreich das Bleiberecht verweigerte. Er gründete seine erste Theatergruppe Théâtre Ô Parleur, wurde 2000 künstlerischer Leiter des Théâtre de Quat’sous und rief die erste französisch-quebecianische Theatergruppe Abé carré cé carré/Au carré de l’hypothénuse ins Leben, mit der er seine eigenen Stücke entwickelte und inszenierte. Mouawad wies bereits ein umfangreiches dramatisches Werk auf, als 2006 zum ersten Mal ein Stück auf deutsch zu sehen war: VERBRENNUNGEN, ein Drama über die Suche nach Wahrheit und die Verstrickung in eine von Bürgerkrieg und sinnloser Gewalt geprägte Vergangenheit, hat innerhalb von zwei Jahren in 23 Inszenierungen die Großen Bühnen im deutschsprachigen Theater erobert. Seit 2007 ist Mouawad Künstlerischer Leiter des Französischen Theaters Ottawa und arbeitet auf beiden Seiten des Atlantiks an zahlreichen Theaterprojekten.

Viele Werke des Autors wurden mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet.

 Aufmerksam wurde ich auf das Stück durch den Literatursender im hr2.


Emma Donoghue / Raum (1)


Eine Buchbesprechung der o. g. Lektüre

Zu Beginn des Buches war ich arg irritiert von den vielen Schreibfehlern, doch später wurde mir klar, dass die Fehler von dem fünfjährigem Kind Jack,
der Ich-Erzähler, stammen, weil er nicht sozialisiert ist und dadurch das Sprechen nicht richtig gelernt hat. Seine Welt besteht tatsächlich nur aus dem neunzehn Quadratmeter großen Raum und die einzige Bezugsperson ist seine Mutter. Es gibt noch einen Schrank, einen Fernseher, Kochnische, Badewanne und Toilette, Kinderbücher... . Jack hat außer seine Mutter noch nie einen anderen Menschen zu Gesicht bekommen, mit Ausnahme der Fernsehfiguren... . Aber das ändert sich, bis er Old Nick kennenlernt, mit fünf Jahren erst, den er heimlich aus den Schlitzen des Schrankes beobachtet, als er eines Nachts nicht schlafen konnte... . Solche Beobachtungsnächte wiederholten sich in Folge... , doch von dem Missbrauch bekam er nichts mit. Old Nick kannte er nur aus den Erzählungen seiner Mutter, da dieser die ganzen Bestellungen entgegen nimmt, und auch einlöst... .

Der kleine Jack ist in dem Raum zur Welt gekommen. Der Täter, Old Nick,  ist ein Sexualverbrecher, der für die beiden, wie schon erwähnt, mit allem Lebensnotwendigen versorgt, er die Mutter aber fast jede Nacht sexuell nötigt. Damit der Kleine nichts von den sexuellen Praktiken mitbekommt, hat die Mutter ihn von Baby an daran gewöhnt, im Kleiderschrank zu schlafen, wo sie ihm ein Lager mit einer Kuscheldecke herrichtete... . Wenn der Täter nachts wieder das Zimmer verlässt, holt sich die Mutter den Jungen zu sich ins Bett...  . 

Ein wenig gewöhnungsbedürftig war für mich zu lesen,  als Jack im Alter von fünf Jahren noch immer von der Mutter gestillt wurde, aber im Nachhinein fand ich es doch existentiell wichtig, damit er mit den lebensnotwendigen Mineralien, wie z.B. mit Kalzium, versorgt werden konnte... . 

 Kaum hatte ich die Frage gestellt, wer der Vater / Erzeuger des Kindes ist, wurde sie auch schon eine Seite später beantwortet, obwohl man sich das ja auch denken konnte, wobei es ein wenig irritierend ist, dass es der Mutter gelang, Jack so sehr zu lieben, ohne das Kind mit dem Kidnapper genetisch in Verbindung zu bringen...  .

Dadurch, dass der Junge keine andere Welt  gesehen hat, als nur den Raum, leidet er auch nicht darunter, nein, er fühlt sich nicht einmal eingesperrt. Anders die Mutter, die manchmal zu Depressionen neigte... . Die Mutter versucht dem Kind zu erklären, woher sie komme und wie sie in den Raum verschleppt wurde... . Für den Jungen sind die Erzählungen alles nur ein Spiel und vergleicht sie mit den Abenteuern aus den Kinderbüchern von Alice im Wunderland... . Die Mutter hegt nun Fluchtabsichten und versucht Jack mit in ihre Pläne einzuweihen, und Jack zu einem praktischen Fluchtpartner trainiert... .

Zur Mitte des Buches hin erlebt man eine Wende, worüber ich echt froh war, denn ich hätte gar nicht die Nerven gehabt, so psychothrillerartig vierhundert Seiten lang aushalten zu müssen. Bin absolut kein Krimi Fan, das Buch ist aber auch kein Psychothriller, wenn sich das erst ein wenig so liest.

Eine Parallele zu ziehen mit Kasper Hauser war wohl nicht falsch. Da der Roman kein Psychothriller ist, geht es also auch viel darum, wie das Leben nach dem Gefängnis weiter verläuft und ob der kleine Jack Entwicklungsschäden davongetragen habe. Im Buch sind beide ein interessanter Fall für die Experten der Psychologie und der Psychiatrie... . Die Mutter erlebte durch das Kidnapping, mit 19 Jahren wurde sie "gestohlen", ein richtiges Trauma, anders dagegen Jack, der in dem Raum geboren und dort seine fünf Jahren verlebte. Die Mutter konnte die Entführung nur durch den Jungen verkraften und ertragen. Jack selbst erlebte absolut kein Trauma, im Gegensatz zu seiner Mutter fühlte er sich dort geborgen und sehnte sich nach der Befreiung nach dem Raum wieder zurück. Dort hatte er seine Mutter für sich alleine, die Welt war durchschaubar, und der Sexualverbrecher tat ihm nichts zu Leide, bekam ihn nicht einmal zu sehen, da Jack die Nächte teilweise im Schrank verlebte... . 

 Also, die späteren Themen, die sogenannten Themen nach dem Krimiteil, finde ich interessanter, wo Jack und seine Ma klinisch und psychiatrisch betreut werden. Die Gesellschaft reagiert zwar mitfühlend aber doch auch mit einer Sensationsgier und betrachtet die beiden als diejenige Opfer, als ob habe es in der Welt noch nie solch ein Verbrechen gegeben, was die Mutter auch verteidigt, und erinnert diese an die tagtäglichen Schlagzeilen, die auf Krieg, Gewalt, Isolation und Missbrauch hinführen, und sich bei diesen Schlagzeilen niemand aufregen würde... .  Die Mutter geht vor die Presse, damit die Paparazzis nicht irgendetwas in das Geschehen der beiden Opfer hineininterpretieren und das Ganze journalistisch nicht noch mehr aufputschen und erklärt sich bereit, ihre Erlebnisse öffentlich kundzutun. Die Menschen stellen teilweise stupide und spießige Fragen, die die Mutter am Ende so überfordern, dass sie nach dem Interview einen starken psychischen  Zusammenbruch erleidet... .

Schön fand ich am Ende des Buches, als die Autorin im hinteren Teil des Romans selbst von Kaspar Hauser spricht, der seine Gefangenschaft als ein kleines Verlies erlebt hat, und er dies erst erkennen konnte, als er befreit wurde und er Deutschland als das große Verlies bezeichnete...:D. 

So ähnlich ist es auch bei Jack. Die Gesellschaft brachte absolut nicht die notwendige Geduld mit dem Kind auf und hatte Schwierigkeiten, sich in ihn, in seine Welt hineinzuversetzen... , obwohl sie sehr bemüht war... . Es wird deutlich, dass der Mensch nicht nur die Mutter benötigt, um sich weiterzuentwickeln, sondern auch die Gesellschaft und die unterschiedlichen Institutionen, in denen er sozialisiert wird, um wichtige Entwicklungsstadien zu erreichen... . In den Studien der Soziologe weiß man das ja, aber hier wird es literarisch-empirisch nochmals deutlich und die Theorien werden bestätigt, ähnlich wie bei Kasper Hauser, der ja niemanden hatte, mit dem er interagieren konnte..., wobei Jack nicht gestört ist im eigentlichen Sinne. Er ist ein ganz normaler Junge, der in seiner Welt "normal" aufgewachsen ist. Auffällig wird er erst, als er die andere Welt betritt, die ihre eigenen Regeln und Normen besitzt, die für Jack fremd sind, so wie Jacks Welt für die anderen fremd ist. Demnach muss hier relativiert werden, und es stellt sich schon auch die Frage, was denn normal ist? Während Jack sich in der beengten Welt wohl fühlt, fliehen Menschen aus der äußeren Welt regelrecht davor, weil sie zu viel Nähe einfach nicht ertragen können... Ist das normal, dass Jack sich in beengten Räumen wohl fühlt, oder ist es normal, dass andere davor fliehen? Bezogen sind diese Fragen auch auf menschliche Beziehungen... .

Interessant ist auch zu lesen, wie Jack die Welt im TV erlebt hat. Als er die großen Berge sieht, sagt er zu seiner Mom, dass die Berge für die Welt draußen viel zu groß sein würden. Die würden dort nicht reinpassen :D. Die Mutter erzählte ihm, wieviel größer die Welt draußen wäre, doch Jack hatte trotzdem keine richtige Vorstellung von Raum und Zeit und konnte sich einfach nicht vorstellen, dass die Berge kleiner als die Welt sei. 

Große Probleme zeigte Jack draußen, als er alles wortwörtlich nahm, was die Leute so sprachen. Seine Mutter begann einen Suizidversuch und die Großmutter teilte Jack später mit, dass sie mittlerweile über dem Berg sei. Jacks Reaktion: Wieso ist Mam hinter den Berg gegangen? Was macht sie dort? :D.

Ein anderer sagt: "Das haut mich aber um" und Jack wartet gespannt auf die Reaktion und als diese ausbleibt sagt er: "Ich sehe nichts nach ihm hauen."

Oder eine andere Person: "Das bringt deine Mutter um, wenn sie das hört", so gerät Jack voll in Panik, dass die Mutter getötet wird... . .

So, hier mache ich mal Schluss... .

Da ich ja gewöhnlich meine Buchbesprechungen mit Zitaten belege, ich aber auf fb mich schon so sehr über das Buch ausgelassen habe, scheint nun die Energie verpufft zu sein. Allerdings hatte ich versucht ein Teil des Interview zu zitieren, was mir nicht gelungen ist, da die Zitate zu sehr aus ihrem Zusammenhang herausgerissen werden würden. Bei solch einem Thema wie dieses muss man die Textstellen selber und im Zusammenhang lesen und habe die Zitate wieder herausgenommen... .

Da mir das Buch erst nach der Befreiung so richtig gefallen hat, habe es im Kopf als Teil II eingeteilt, so gebe ich dem Buch acht von zehn Punkten. Der erste Teil ist nicht wirklich authentisch geschrieben... Ein wenig unecht hat es auf mich gewirkt.

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„Die rechte Vernunft liegt im Herzen“ (Theodor Fontane)

SuB:

Amin: Der Klang der Sehnsucht
Frank: Rücken an Rücken
Lenz: Die Masken
Leroux: Das Phantom der Oper
Manguel: Die Bibliothek bei Nacht
Mann. T. Erzählungen (1)
Miin: Madame Mao
Muawad: Verbrennungen
Obrecht: Die Tigerfrau
Osorio: Mein Name ist Luz
Pamuk: Istanbul
Senger: Kaiserhofstr. 12
Thackeray: Das Buch der Snobs

Gelesene Bücher 2012: 51
Gelesene Bücher 2011: 86