Donnerstag, 10. Januar 2013

Erich Maria Remarque / Liebe Deinen Nächsten (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Das Buch hat mir sehr gut gefallen. Eine Herzensbildung, ein Plädoyer für mehr Menschlichkeit, so habe ich es erlebt... .
Ich habe mir so viele Textstellen markiert und muss davon eine Auswahl treffen, sonst gibt es ein zweites Buch, und das habe ich nicht vor zu schreiben.

Bildung auf der Ebene der Menschlichkeit, weil es in dem Buch an Menschlichkeit fehlt und das Formale ganz oben steht und nicht die Person selbst. Das heißt, der Mensch auf dem Papier dominiert, und wer keine Papiere hat, der existiert schon mal gar nicht. In vielen Teilen von Europa wurden die Flüchtlinge von Grenze zu Grenze abgeschoben, niemand fühlte sich für ihre existentiellen Nöte verantwortlich, da war sich jeder selbst am nächsten...

(...) Und all das nur, weil ihnen und den gelangweilten Beamten hinter dem Schreibtisch ein Stück Papier trennte, Pass genannt. Ihr Blut hatte die gleiche Temperatur, die gleiche Farbe, ihre Augen hatten die gleiche Konstruktion, ihre Nerven reagierten auf die gleichen Reize, ihre Gedanken liefen in den gleichen Bahnen - und doch trennte sie ein Abgrund, nichts war gleich bei ihnen, das Behagen des einen war die Qual des andern, sie waren Besitzende und Ausgestoßene, und der Abgrund, der sie trennte, war nur ein kleines Stück Papier, auf dem nichts weiter stand als ein Name und ein paar belanglose Daten.

In dem Roman bekommen mehrere Figuren die Hauptrolle und im Anhang habe ich entnehmen können, dass Remarque selbst betroffen war, nicht als Jude aber als Intellektueller, der den Nationalismus nicht unterstützden konnte und dadurch in die Schweiz emigrierte, später in die USA. Von den Nationalsozialisten wurde er ausgebürgert. Als Exilant lernte er viele Flüchtlinge kennen, die ihm ihr Leid beklagten und Remarque neben seine eigenen Erfahrungen viele gehörte Geschichten in seine Bücher hat einfließen lassen. Remarque galt als ein geduldiger Zuhörer.

Es gab Betroffene, die ihren Humor nicht verloren haben und versuchten ihre Lebenssituation von der besten Seite zu sehen. Ludwig Kern, Protestant und Jude zugleich, ist eine von den Hauptfiguren, die sich sagte, dass alles noch besser sei als der Tod. Josef Steiner war der Auffassung, dass alles besser sei als der Krieg und so versuchten sie ihre schwere Lebenslage in Relationen gesetzt zu akzeptieren... .

Viele flüchtende Menschen versuchten an falsche Papiere dran zu kommen, die von Profis für viel Geld illegal ausgestellt wurden. Und nicht jeder besaß dieses Geld... . Josef Steiner hatte das Glück, der in Österreich einen Pass bekommen hat von einem Verstorbenen namens Johann Huber:

Johann Huber! Arbeiter! Du bist tot und verfaulst irgendwo in der Erde von Graz - aber dein Pass lebt und ist gültig für die Behörden. Ich, Josef Steiner, lebe; aber ich bin ohne Pass tot für die Behörden. (…) Tauschen wir, Johann Huber! Gib mir dein papierenes Leben und nimm meinen papierlosen Tod! Wenn die Lebenden uns nicht helfen, müssen die Toten es tun.

Ich fand dieses Zitat total makaber, weshalb ich es mir aufschreiben musste.

Was sind denn im zweiten Weltkrieg noch die Werte gewesen? Auch dies fragen sich viele aus ihrer Heimat Vertriebenen:

Ein rauhes Zeitalter. Der Frieden wird mit Kanonen und Bombenflugzeugen stabilisiert, die Menschlichkeit mit Konzentrationslagern und Pogromen. Wir leben in einer Umkehrung aller Werte. Der Angreifer ist heute der Hüter des Friedens, der Verprügelte und Gehetzte der Störenfried der Welt. Und es gibt ganze Völkerstämme, die das glauben!

"Und es gibt ganze Völkerstämme, die das glauben!" (Das ist ja heute oftmals auch immer noch so. Zu schnell werden von Politiker Feindbilder geschaffen, die kaum einer hinterfragt).

Jeder musste um sein Überleben kämpfen, und sei es, dass Mittellose sich an Mittellose vergreifen. Der gutmütige Ludwig Kern lässt einen Bettler in sein Zimmer und überlässt ihm sein Bett, in dem er zu seiner Freundin ins Zimmer geht und sich zu ihr legt. Kern lässt seinen Koffer aber mit wenigen Habseligkeiten im Zimmer zurück, weil er dem Bettler nicht das Gefühl geben wolle, als misstraue er ihm. Seine paar Kröten waren in dem Koffer einer Tasche eingenäht, für andere nicht sichtbar... . Kern wurde ausgeraubt. Der Bettler schlief gar nicht in dem Bett, er war nur auf sein Geld aus. Und er hatte problemlos die eingenähte Geheimtasche finden können. Zwei Tage später trifft Kern den Dieb in einem Lokal und konfrontiert ihn mit dem Diebstahl, fordert sein Geld zurück. Ich gebe die "Philosophie" des Diebes wieder:

"Ich brauche das Geld selbst. Sie sind billig davon gekommen. Sie haben für vierzig Franken die größte Lehre empfangen, die es im Leben gibt: Nicht vertrauensselig zu sein."

Glücklicherweise gab es bei der Polizei einen Angestellte, der auf indirekte Art und Weise den gefassten Flüchtling zur Flucht verholfen hat. Mir hat es so gut gefallen, dass ich diese Textstelle auch unbedingt aufschreiben und festhalten möchte:

Es hat keinen Zweck! Zwar habe ich ein verstautes Bein und kann nicht hinter Ihnen herlaufen, aber ich würde sie sofort anrufen und dann meinen Revolver ziehen, wenn sie nicht stehen bleiben. (...) Das dauert natürlich seine Zeit. (…) Sie können mir vielleicht inzwischen entwichen, besonders an einer Stelle, an die wir gleich kommen werden, da sind allerhand Gässchen und Ecken und von Schießenkönnen ist da nicht viel die Rede. Wenn Sie da fliehen würden, könnte ich Sie tatsächlich nicht fangen. Ich müsste Ihnen höchstens vorher Handschellen anlegen.

Natürlich legte er ihm keine Handschellen an... .

Flüchtlinge galten und gelten heute noch immer als kriminell, wenn sie illegal in ein anderes Land einreisen. Das Gesetz machte sie zu Verbrechern. Sie waren Vertriebene und hatten keine andere Wahl, als zu flüchten, wenn sie ihr Leben retten wollten. Sie wurden regelrecht
 in die Illegalität getrieben. Die Grenzen wurden zur Heimat. Ein Bauer in der Schweiz wundert sich, dass Menschen von der Polizei gesucht werden, die nichts verbrochen haben. Ludwig Kern und seine Freundin Ruth suchen bei einem Bauer in der Schweiz Unterschlupf. Ludwig Kern macht dem Bauer ihre Situation deutlich:

Der Bauer schüttelte den Kopf. " Und Sie haben nichts getan? Nichts ausgefressen?"" Wir haben keine Pässe und können keine bekommen, das ist alles."" Das meine ich nicht. Sie haben nicht irgendwo etwas gestohlen oder jemand betrogen oder so etwas?"" Nein."" Und trotzdem jagt man hinter Ihnen her, als wäre ein Steckbrief auf Sie ausgeschrieben?"" Ja."Der Bauer spukte aus." Das verstehe, wer kann, ein einfacher Mann versteht es nicht."

Ludwig Kern wird immer mal wieder von der Polizei gefasst. Dem Richter versucht er deutlich zu machen, dass Menschen wie er nicht anderes können, als gegen das Gesetz zu verstoßen. Es sei schließlich das Gesetz, das sie zu Verbrechern machen würde. Andere Menschen, die in ihrer Heimat bleiben können, kommen erst nicht in diese Lage, das Gesetz zu brechen. Oftmals werden die gefassten Flüchtlinge sogar vorbestraft... .

Remarque beschreibt auch einen Flüchtling, der müde geworden ist, ständig auf der Flucht zu sein und wünscht sich nichts anderes mehr als den Knast. Er begeht in einem Juwelierladen absichtlich einen Diebstahl, damit er eingesperrt wird und nicht mehr flüchten muss. Auch muss er dann als Gefängnisinsasse nicht mehr hungern und nicht mehr frieren. Makaber so eine Handlung aber verständlich, wenn ein Mensch so getrieben wird.

Auch ein Richter denkt an nichts anderes, als an seine Pflicht, an seine berufliche Pflicht, sich an die Gesetze zu halten und Flüchtlinge ohne Papiere zu bestrafen. Kern bekommt von dem Richter ein paar persönliche Fragen gestellt, nach dem das Urteil von ihm ausgesprochen war:

"Glauben Sie noch an irgendetwas?""O ja; ich glaube an den heiligen Egoismus! An die Unbarmherzigkeit! An die Lüge! An die Trägheit des Herzens!"" Das habe ich befürchtet. Wie sollten Sie auch anders…""Es ist noch nicht alles", erwiderte Kern ruhig. "Ich glaube auch an Güte, an Kameradschaft, an Liebe und an Hilfsbereitschaft! Ich habe sie kennengelernt. Mehr vielleicht als mancher, dem es gut geht."

Ich möchte jetzt noch ein letztes Zitat einbringen, das mir auch gut gefallen hat, es geht noch einmal um die Werte, die nicht stark genug waren, den Nationalsozialismus zu besiegen:

Es lebe die Vernichtung des Individuums! Bei den alten Griechen war Denken eine Auszeichnung. Dann wurde es ein Glück. Später eine Krankheit. Heute ist es ein Verbrechen. Die Geschichte der Kultur ist die Leidensgeschichte derer, die sie schufen.

Ich bin jetzt nicht auf die einzelnen Schicksale der Protagonisten eingegangen, habe mich stattdessen ein wenig allgemein gehalten, weil mir die Kernbotschaft einzelner Zitate so wichtig waren.

Die Protagonisten in dem Buch werden nicht einfach mit der letzten gelesenen Seite stumm. Nein, denn sie lebten nicht nur im Nationalsozialismus, sie leben heute noch weiter, in anderen Kriegsländern und oder Krisenländern... oder ähnliches und immer noch werden Menschen aus den verschiedensten Gründen aus ihrer Heimat vertrieben und in die Illegalität getrieben und nach wie vor will niemand diese Menschen haben... . Deshalb ist das Buch nicht nur ein Appell an vergangene Zeiten, nein, der Appel zu mehr Nächstenliebe, zu mehr Menschlichkeit ist bis heute noch gültig, bis morgen, solange wie es an Menschlichkeit in unserer Welt mangelt.


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„Musik ist eine Weltsprache“
         (Isabel Allende)

Gelesene Bücher 2013: 03
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86







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