Sonntag, 16. Juni 2013

Jonathan Coe / Der Regen, bevor er fällt (1)

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Eine Buchbesprechung der o. g. Lektüre


Das Buch hat mir sehr gut gefallen. Es ist recht authentisch geschrieben, ist psychologisch prägnant und auch sehr lebensnah. Hier wird nichts beschönigt. Es zeigt das nackte Leben der Romanfiguren. Jonathan Coe, als sei er Psychologe von Beruf, zeichnet original die Gesichter seiner fiktiven Personen auf, und was sich dahinter verbirgt. Die Idee, wie er das Thema behandelt hat, fand ich originell und hat mich fasziniert. Anfangs habe ich mir ein wenig schwer getan, in das Geschehen reinzukommen, weil so viele Namen gefallen sind, die ich noch nicht zuordnen konnte. Das änderte sich aber im Laufe der Romangeschichte.

Ich werde nicht zu viel verraten, weil ich jedem die selbe Überraschung gönnen möchte, die ich selbst durch die Geschichte erfahren habe.

Der Roman behandelt eine größere Familiengeschichte, die über mehrere Frauengenerationen geht, und alle mit einem schweren Schicksal behaftet sind.

Die Hauptdarstellerin ist Rosamunde, der man diese Geschichte, die erzählt wird, zu verdanken hat. Rosamunde ist allerdings im Alter von 73 Jahren verstorben, und sie an ihre Nichte zweiten Grades mit dem Namen Imogen eine Erbschaft hinterlässt. Die Erbschaft besteht aus einer Geldsumme und aus zwanzig Fotos, nummeriert von eins bis zwanzig, die alle der Reihe nach auf Tonband beschrieben werden, so dass daraus eine ganze Geschichte entsteht. Imogen ist blind, dies erfährt man schon zu Beginn des Romans, es aber spannend bleibt zu erfahren, woran Imogen erblindet ist und weshalb sie sich bei Pflegeltern auffindet. Aufgrund ihrer Blindheit werden die Fotos aufs Band beschrieben.
Rosamanundes Nichte Gill, die auch Teilerbin wird, bekommt durch ihre verstorbene Tante in schriftlicher Form die Aufgabe zugetragen, Imogen aufzusuchen, und ihr die Erbschaft zu überbringen. Imogen  ist wie verschollen. Gill gibt mehrere Suchanzeigen auf. Erst zum Ende des Romans erfährt man zu Imogens Verbleib... . Wo lebt die mittlerweile junge erwachsene Imogen? Was ist mit ihr passiert? Dies erfährt man eigentlich erst am Schluss der Geschichte. Mit Imogens eingetretem Ausgang hatte ich allerdings nicht gerechnet und kam für mich total überraschend.

Die Protagonistinnen der Romanhandlungen sind Rosamunde, Beatrice, Batrices Tochter Thea, und später Theas Tochter Imogen.

Beatrice und Rosamunde sind Cousinnen. Beatrice ist drei Jahre älter. Rosamunde ist von ihrer Familie für eine bestimmte Zeit an Beatrices Familie abgegeben worden. Rosamunde war zu der Zeit acht Jahre alt. Zwischen Rosamunde und Beatrice entsteht eine außergewöhnliche Freundschaft, beide gingen eine Blutsweihe ein und bezeichneten sich dadurch als Blutsschwestern, wobei Beatrice eher Mitleid mit Rosamunde hatte, als sie von den Eltern für kurze Zeit verlassen wurde. Es sind die späten Jahre des zweiten Weltkriegs und die Jahre danach. Beatrice hatte kein wirkliches Interesse zu dem Mädchen Rosamunde. Hauptsächlich ihr Mitleid verband sie mit ihrer Cousine.
Die beiden Mädchen erleben einige Abenteuer in ihrer gemeinsamen Kinderzeit und bleiben auch im erwachsenen Alter auf merkwürdige Art und Weise verbunden.

Beatrice wird im Alter von achtzehn Jahren schwanger und ist durch die gesellschaftlichen Konventionen gezwungen, den Erzeuger zu heiraten, ohne dass echte Liebe zwischen dem jungen Paar bestand. Zur Welt kommt Thea und Thea ist kein Wunschkind. Das bekommt Thea ziemlich schnell von ihrer Mutter zu spüren. Beatrice verliebt sich in einen Kanadier, und beschließt, die Ehe zu brechen und mit ihrem neuen Liebhaber nach Kanada auszuwandern. Thea, mittlerweile drei Jahre alt, steht im Weg, sie bekommt keinen Platz in dieser neuen Beziehung zugewiesen. Rosamunde, die zusammen mit ihrer Freundin Rebecca lebt, wird von Beatrice gebeten, Thea bei sich aufzunehmen, bis sich ihre Verhältnisse geglättet haben.

Beatrice wird nie richtig erwachsen, schiebt unbewusst die Verantwortung ihrer Tochter zu, dass ihre Geburt ein Fehler sei.

Thea wächst zu einem sehr sensiblen Mädchen heran. Der Regen, bevor er fällt, stammt aus ihrem Kindermund. Sie liebt nämlich den Regen, noch bevor er gefallen ist. Rosamund klärt sie auf:
"Weißt du, so etwas wie einen Regen, bevor er fällt, gibt es nicht. Er muss erst fallen, sonst ist es kein Regen." Es war reichlich blödsinnig, einem kleinen Mädchen so etwas erklären zu wollen. Ich bereute schon, überhaupt damit angefangen zu haben. Doch Thea schien überhaupt keine Schwierigkeiten zu haben, diesen Gedanken zu begreifen, im Gegenteil - denn nach einigen Augenblicken sah sie mich an und schüttelte mitleidig den Kopf, als stellte es Ihre Geduld auf eine harte Probe, über so etwas mit einem Dummkopf zu diskutieren."Natürlich gibt es so etwas nicht", sagte sie."Gerade deshalb ist es ja mein Lieblingsregen. Es kann einen doch auch etwas glücklich machen, das es gar nicht wirklich gibt, oder etwa nicht?" Und damit rannte sie grinsend weg, hinunter zum Wasser, hochzufrieden, dass ihre Logik einen so dreisten Sieg davongetragen hatte. (178)
Etwas zu lieben, was es gar nicht gibt, habe ich mir so erklärt, dass es die Mutterliebe ist, die Thea vermisst. Sie weiß unbewusst, dass sie von ihrer Mutter nicht geliebt wird. Beatrice war zu jung für ein Kind, zu jung für eine Ehe. Mit achtzehn Jahren ist man lebenshungrig, und man muss oftmals einige Partnerschaften erst ausprobieren, bevor man eine Ehe eingeht. Diese Zeit hat Beatrice allerdings nicht gehabt, die Konventionen waren zu sehr vorgegeben. Beatrice war auch in den folgenden Jahren nicht reflektiert genug, um die Verantwortung für die Geburt Theas zu übernehmen. Sie behandelte ihr Kind weiterhin schlecht, machte ihr immer wieder Vorwürfe, dass es besser gewesen sei, sie wäre nie geboren worden. Thea fühlt sich der Mutter ohnmächtig ausgeliefert, wächst mit einer inneren Leere auf, und ihre Gefühle erstarren immer mehr zu Eis. Thea begreift sich als ein Defekt, als ein Fehler, der nie hätte begangen werden sollen. Sie ist selbst davon überzeugt, dass sie nie hätte geboren werden sollen. Doch wie kann ein Kind die Geburt verhindern? Erwachsene Menschen, die sich in ihrer Sexualität nicht beherrschen können, um ein Kind zu verhüten, sind nicht in der Lage, Verantwortung zu übernehmen. Thea hat nie wirklich ihren inneren Frieden finden können:

Ich war ein Fehler, und das bin ich zu einem gewissen Grad auch in meinen eigenen Augen bis heute geblieben. Dieses Wissen lässt einen niemals los, kann nie rückgängig gemacht werden. Es bleibt nichts anderes übrig, als sich damit abzufinden und damit zu leben. (294)

Über die Generationen hinweg entsteht ein gewisses emotionales Muster, das in die nächste Generation psychogenetisch weiter vererbt wird. Doch wer trägt die Schuld? Geht es überhaupt um Schuld? Manchmal müssen Dinge geschehen, weil sie gelebt werden müssen, und die Erfahrung bewertet nicht in gut und schlecht. Sie will gelebt werden in all ihren Facetten. Deutlich wird das auch ganz besonders anhand des Hundes Bonaparte. Bonaparte war der vielgeliebte Hund von Beatirces Mutter und der Hund durch Beatrices Verhalten auf Nimmerwiedersehen ausreißt. Wer mehr dazu wissen möchte, verweise ich auf das Buch.
Nichts war zufällig. Es gab ein Muster, irgendwo musste in all dem ein Muster zu finden sein ... (297).
Als Thea schließlich schwanger wird, und Imogen zur Welt bringt, werden die Probleme nicht kleiner, sie werden eher noch weiter fortgesetzt und das Drama erreicht mit Imogens Existenz den Höhepunkt. Rosamunde wollte gerne Imogen bei sich aufnehmen, wie sie damals Thea bei sich aufgenommen hatte. Sie ist eigentlich die einzige aus der Familie, die dieses emotionale System durchschaut. Sie hatte das Bedürfnis, Imogen bei sich aufzunehmen, um ihr die Liebe zu geben, die ihre Mutter ihr nicht hat geben können:
Und auf diese Weise könnte vielleicht, über die Generationen hinweg, die Ungerechtigkeiten ein bisschen zurechtgerückt werden. So sahen jedenfalls die Möglichkeiten für die Zukunft aus, die ich mir in dieser Situation zusammen fantasiert hatte. (253)
Doch dem Wohlfahrtsamt sagte Rosamundes Lebensweise nicht zu, und verweigert ihr das Kind. Jeglicher Bezug zur Familie wurde dem Kind dadurch genommen. Rosamunde war durchaus ein Mensch, der Liebe geben konnte. Ihre Lebensweise befanden sich auch nicht im Sinne der gesellschaftlichen Regeln.

Was wird aus Beatrice und Rosamundes Freundschaft? Gelingt es Gill, Imogen aufzufinden und ihr das Erbe zu überreichen? Was ist aus Thea geworden? Wie gestaltet Thea die Beziehung zu Rosamunde, die einst ihre Ersatzmutter war? Wird das Band zwischen Thea und Rosamunde gebrochen? Warum lebt Imogen in einer Pflegefamilie bzw.bei  Adoptiveltern? Was ist mit Thea passiert, die nicht in der Lage war, für ihr Kind zu sorgen? Das waren alles Fragen, die mich schon auf den ersten Seiten beschäftigt hatten.

Mein Fazit
Ich habe vieles unerwähnt gelassen, weil ich die Spannung nicht nehmen möchte. Wobei es hier nicht um die Spannung geht, die man aus Krimis kennt. Es ist eher das Interesse, das zu der Lebensweise der vielen unterschiedlichen Frauen  immerzu steigt und man wächst als Leserin so richtig in die Geschichte(n) rein. Das ist dem Autor sehr gut gelungen... .
Einen Aspekt habe ich noch weggelassen und möchte ihn doch noch einbringen... .
Man fragt sich beim Lesen immer wieder, wo der Mann in seiner Verantwortung geblieben ist? Ist es die Absicht des Autors, dass die Männer hier eine so geringe Rolle spielen? Sowohl die Frauen, als auch die Kinder, bleiben mit ihrem Schicksal allein. Die Männer tragen oft keinerlei Konsequenzen davon. Beatrices erster Mann freute sich, als er eines Tages nach Hause kam, und eine leere Wohnung vorfand. Kind und Mutter waren fort. Wo bleiben die Vatergefühle? Warum hat er wenigstens nicht um sein Kind getrauert?  Entweder kamen die Männer in dem Buch zu kurz, oder aber die Einstellung der Männer war eben so, wie sie im Buch beschrieben wurden. Ein Abbild der Realität zu der damaligen Zeit? Für mich waren sie eher wie Schattenfiguren anzusehen.
Aber mir ist auch durchaus bewusst, dass es Frauen gibt, die sich immer wieder einer bestimmten Sorte von Männern unterziehen, mit denen sie im Laufe ihres Lebens zu tun haben. Das hat nichts mit der Zeit zu tun, das Problem ist eher zeitlos.

Und trotzdem bleibt mir die Frage noch offen, wie ein männlicher Autor dazu kommt, nur Frauenschicksale zu erfinden? Kennt er sich mit dem anderen Geschlecht wirklich besser aus als mit dem eigenen? Es geht hier hauptsächlich um Frauenschicksale. Es ist kein Mix der beiden Geschlechter. Da ich keine Literaturwissenschaftlerin bin, gelingt es mir nicht, diese Frage zu beleuchten und lasse sie unbeantwortet stehen. Vielleicht muss ich ein paar Bücher mehr von dem Autor lesen, um ihn besser begreifen zu können.

Das Buch ist keineswegs sentimental geschrieben, und auch nicht von übertriebenen Emotionen beladen, dennoch sind mir zum Schluss die Tränen gekommen.
Das Buch erhält von mir zehn von zehn Punkten. Zu den zu Beginn der Buchbesprechung schon erwähnten positiven Punkten fühlte ich mich zudem auch von der literarischen Sprache des Autors recht angezogen.
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Es kann auch etwas glücklich machen, was es gar nicht wirklich gibt
(Jonathan Coe)

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