Samstag, 21. Dezember 2013

Jeffrey Eugenides / MIddlesex (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Das Buch hat mir sehr gut gefallen. Es ist so geschrieben, als habe der Autor das alles selbst erlebt ... .
Ein wenig hat er mich von der Thematik her zu den außergewöhnlichen geschlechtlichen Identitäten an John Irving erinnert, wobei mir Eugenides authenitischer schreibt. Bei Irving kommt mir vieles gekünstelt und einseitig intellektuell vor, dass ich manchmal davon unangenehme Gänsehaut bekommen habe.

Eugenides lässt seine Figuren auch aus der Seele heraus sprechen und gerade dies hat mir recht gut gefallen, weil es sich für mich einfach glaubwürdig liest.

Ich habe für das Buch lange gebraucht, weil es kein Buch ist, das man so einfach runterlesen kann. Vieles musste erst mal sacken. Und was den literarischen Aspekt betrifft, fand ich ihn gut getroffen, aber auch das Fachlich- Medizinische kommt recht fundiert rüber. Es ist eines der besten Bücher, die ich in diesem Jahr gelesen habe.



Ich hatte mich bisher mit der Thematik Intersexualität noch nicht wirklich befasst.

Unter dem Buchtitel Middlesex hatte ich erst gar keine Vorstellung, was damit gemeint sein könnte. Nach ein paar gelesenen Seiten wagte ich meine ersten Vermutungen, die aber daneben trafen. Ich verrate aber jetzt nicht, was mit dem Titel gemeint ist.

Als ich das Buch das erste Mal begonnen hatte, brach ich es schon nach den ersten Seiten wieder ab, da der Protagonist Cal, das ist der Ich-Erzähler, von seinen Geburten sprach. 1959 kam er erst als Mädchen auf die Welt, 1973 als Junge. Das war mir too much. Habe das Buch dann abgebrochen. Beim zweiten Anlauf hielt ich durch und später wurde dann deutlich, was es mit den zwei Geburten auf sich hatte... .

Damit ich mich nicht wiederhole, gebe ich zur Erinnerung noch einmal den Klappentext rein:
In einem kleinasiatischen Bergdorf fängt alles an. Ein junger Mann und eine junge Frau, Bruder und Schwester, fliehen vor den Türken nach Smyrna und, als die Stadt brennt, nach Amerika. Es ist das Jahr 1922. Auf dem Schiff heiraten sie und lassen sich später in der Autostadt Detroit nieder. Niemand ahnt das Geheimnis dieses Paares, doch nach Jahrzehnten hat der Tabubruch der beiden ungeahnte Folgen.
Der Roman erzählt von einer Familie, die aus drei Generationen besteht. Cal, die / der in seiner Mädchenzeit Calliope Helen Stephanides hieß, verwandelte später den Mädchennamen um in einen männlichen Namen, der Cal gerufen wird. Obwohl er / sie noch gar nicht geboren wurde, erzählte er / sie das Leben seiner Großeltern, Eltern und später sein eigenes Leben.

Der Autor konfrontiert die Leserin mit folgenden Themen.

Historische Ereignisse; der griechisch- türkische Krieg aus dem Jahre 1922. Damit verbunden die Flucht aus dem kleinen griechischen Dorf; die Immigration nach Amerika.
Rassismus in Amerika; verbunden zu nationaler und sozialer Herkunft
und zur geschlechtlichen Identität, androgyner Persönlichkeiten als eine abnorme Form; die Intersexualität, die als das dritte Geschlecht bezeichnet wird.
Die Auseinadersetzung und die Überwindung  oder Nichtüberwindung mit dem Anderssein, beginnend in der ersten Generation, fortlaufend bis zur dritten... .

Jede Menge brisante Themen. Es wird beim Lesen nicht langweilig.

Cals Großeltern schafften es, nach Amerika auszuwandern, allerdings mit falschen Papieren. Süd- und Osteuropäer waren in Amerika nicht willkommen. Sie wurden als die niederen Menschenrassen bezeichnet. Es war schwierig, dort Arbeit zu finden, da die Arbeitsstellen streng nach einem Punktesystem vergeben wurden. Man findet darin schon die erste Form von Diskriminierung.

Die Punkteverteilung auch in der Vergabe von Wohnung / Haus. Auch noch in der zweiten Generation werden persönliche Fragen gestellt und Punkte vergeben. Dadurch, dass es Cals Großeltern finanziell nicht gut geht, sind sie zum erwachsenen Sohn und dessen Frau eingezogen. Ein Nachteil:

Die Maklerin zählt nach der Befragung die Punkte zusammen:
Südliches Mittelmeer. Ein Punkt. Kein gehobener Beruf. Ein Punkt. Religion? Griechisch-orthodoxe Kirche. Das ist doch so etwas wie katholisch, oder? Also auch ein Punkt. Und seine Eltern wohnen bei ihm! Dafür gibts zwei Punkte. Macht-5! Oh, das geht nicht. Das geht überhaupt nicht. Ich muss Ihnen eine Absage erteilen. (357)
Cals Großvater Lefty Stephanides fand als Hilfsarbeiter eine Anstellung in einer Autofabrik. Er wurde verpflichtet, abends einen Sprachkurs zu besuchen. In dem Sprachkurs wurden  den KursteilnehmerInnen gewisse Regeln einverleibt. Eine weitere Form der Diskriminierung:
Arbeiter sollen Zuhause viel Seife und Wasser benutzen. Nichts ist dem richtigen Leben förderlicher als Sauberkeit. Nicht auf den Fußboden der Heimstatt spucken. Keine Fliegen ins Haus lassen. Die Fortgeschrittensten sind die Saubersten. (142)
Die Arbeiter werden zu Hause von zwei Herren im Anzug aus der Fabrik besucht, die sich als Hygieneunterweiser bezeichnen. Sie inspizieren die Lebensweise ihrer Arbeiter und deren Familien. Stephanides müssen verschiedene Fragen beantworten, ob sie sich zum Beispiel die Zähne putzen, und wenn ja wie und mit welchem Gegenstand. Sie wurden über die richtige Nutzung einer Zahnbürste unterwiesen.

Lefty versucht sich zu wehren:
"Wir sind zivilisierte Menschen."
"Verstehe ich das richtig, dass Sie sich der Hygieneunterweisung widersetzen?"
"Hören Sie, die Griechen haben den Parthenon gebaut und die Ägypter die Pyramiden, da haben die Angelsachsen noch Tierfelle getragen."
Nicht nur das. Mir fällt dazu die griechische Mythologie ein und die vielen griechischen Philosophen aus dem Abendland, die unsere literarische Landschaft stark geprägt und bereichert haben. Welch eine Arroganz diese AmerikanerInnen. Schade. Egal welches Buch ich über sie lese, immer wieder werde ich mit deren Überheblichkeit konfrontiert.

Selbst die Essgewohnheit der AusländerInnen wurden mit Argwohn betrachtet. Olivenöl, Knoblauch, eigentlich alles gesundes Gemüse verglichen zu dem ungesunden und fettem Zeug, das die AmerikanerInnen zu sich nehmen. Doch diese Produkte wurden als minderwertig und ungesund bezeichnet. Es gibt auch heute noch Leute, die sich abfällig zu Knoblauch verhalten. Nicht nur in Amerika...

Weiter im Text:
" Punkt eins. Mülleimer in Küche ohne Deckel. Punkt zwei. Stubenfliege auf Küchentisch. Punkt drei. Zu viel Knoblauch in Speise. Verursacht Verdauungsstörung. (…) Wir wollen doch nicht, dass jemand krank wird, nicht wahr? Könnt die Produktion verlangsamen." (148)
Den Migrationsprozess der ersten Generation überstanden die einen durch Assimilation an die amerikanische Gesellschaft, während die anderen in ihrer Herkunftskultur stecken blieben. Desdemona, Cals Großmutter, war es wichtig, ihre kulturelle Identität zu wahren, während ihre Cousine eine Amerikanerin geworden ist. Die Cousine legte das Griechische ab und sprach griechisch nur noch mit einem amerikanischen Akzent.

Ich fand das ganz schön, wie dieser Prozess beschrieben wurde, denn er zeigt, dass jede/r MigrantIn die Migration anders verarbeitet und jeder so frei sein kann, eine neue Identität anzunehmen, die alte zu bewahren, oder ein Mix von beidem zu kreieren, ohne dass daraus gleich ein pathologisches Krankheitsbild entstehen muss. (392)

Und nun zu Cal:

Dadurch, dass sie keine andere Möglichkeit sahen, gemeinsam nach Amerika auszuwandern, sind Cals Großeltern, beide ein Geschwisterpaar, die Ehe eingegangen. Die Not im Herkunftsland war zu groß, um dort weiter leben zu können. Mithilfe falscher Papiere als rechtmäßige Eheleute eingeschrieben, lebten sie auch den Bund der Ehe und betrieben Inzucht, der es zu verdanken ist, dass Cal mit einem "genetischen Defekt" geboren wird. Cals Großmutter, namens Desdemona, plagten ein Leben lang Schuldgefühle religiöser Art, dass sie von ihrem Bruder und Ehemann hat Kinder zeugen lassen. Sie glaubte nun, sie werde von Gott bestraft. Das erste Kind durchlief eine normale Geburt ohne Auffälligkeiten und Desdemona bedankt sich bei Gott und verspricht, sich von dem Bruder kein weiteres Kind machen zu lassen. Nun wusste sie aber nicht, wie man verhütet, lehnt ihren Bruder bei der nächsten sexuellen Annäherung ab. Damit verletzte sie ihren Bruder massiv. Sie hielt den Druck nicht aus und ließ sich doch wieder  mit ihm sexuell ein. Das zweite Kind wurde auch eine Normalgeburt. Dass Schwester und Bruder heirateten und Kinder zeugten, sollte ein Tabu sein und nur die in Amerika lebende Cousine wusste darüber Bescheid. Cals Eltern waren auch Cousine und Cousin ersten Grades.

Als Cal in die Pubertät kommt und eine reine Mädchenschule besucht, wundert er / sie sich, dass ihre Schulkameradinnen alle eine körperliche Veränderung durchliefen, die bei ihm / ihr ausblieb. Keine Menstruation, keine Brüste... . Sie und ihre Eltern nehmen dies als eine körperliche Verzögerung hin, sozusagen eine Spätentwicklung... . Die Zeit vergeht, und bei Cal tut sich nach wie vor nichts. Nun wird Cals Mutter misstrauisch und vereinbart einen Termin bei einem Gynäkologen, der in einer Klinik angestellt ist. Die Klinik ist auf sexuelle Störungen und auf geschlechtliche Anomalien spezialisiert. Auch hier erfährt Cal eine Form von Diskriminierung. Cal trägt einen griechischen Namen, hat aber mit Griechenland wenig am Hut. Die Ärzte, nachdem sie an Cal intensive Untersuchungen und Studien betrieben hatten, fanden heraus, dass Cal zwittrig ist. Sie suchten nach Erklärungen, an denen sie ihre Theorien entwickelten: Die Mehrgeschlechtigkeit käme überwiegend in minderwertigen Kulturkreisen vor, in denen es über Generationen hinweg üblich sei, Ehen innerhalb einer Sippschaft zu schließen und Kinder zu zeugen. Cals Eltern hatten verschiedene Fragebögen auszufüllen und den Theorien des Wissenschaftlers konnten nicht bestätigt werden. Cal war das einzige Kind mit dieser geschlechtlichen Andersartigkeit... . Während dieses ganzen Prozesses weiß noch niemand, dass die Großeltern Geschwister sind. Nun beginnt für Cal und den Eltern unbewusst die Spurensuche und die Suche nach der geschlechtlichen Identität. Die Ärzte raten zu einer Operation, damit Cal ein relativ normales Leben leben könne. Cal sucht Bibliotheken auf, und durchstöbert verschiedene Lexika, um sich zu dem sog.  Krankheitsbild zu informieren. Er /sie ist schockiert, als er / sie aus dem Buch die Bezeichnung liest, dass androgyne Persönlichkeiten mit Monstern verglichen werden. Die Forschung dazu befand sich noch in Kinderschuhen.
Wie geht Cal damit um? Begibt er / sie sich weiterhin in die Hände der Wissenschafler, die ihn / sie zu Forschungszwecken benutzten? Wie reagieren die Eltern auf die Untersuchungsergebnisse und die weiteren Verläufe?

Und hier mache ich Schluss. Wer mehr wissen möchte, so verweise ich auf das Buch.

Mein  Fazit:

Das Buch hat mich betroffen gestimmt. Und so fragte ich mich erneut, was normal und was nicht normal ist? Meine Antwort:

Wenn jeder Mensch sich nur mit sich selbst vergleichen würde, dann wäre jeder Mensch so wie er ist ein normaler Mensch. Lernen, mit dem Anderssein umzugehen, denn jeder ist anders, statt an sich und an den Erwartungen anderer Menschen zu verzweifeln. Diese Hürde stellt den Menschen vor große Herausforderungen.

Das Buch erhält von mir auch aufgrund seiner Vielfalt an Themen zehn von zehn Punkten.
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Wir alle bestehen aus vielen Teilen, anderen Hälften
(Jeffrey Eugenides)

Gelesene Bücher 2013: 78
Gelesene Bücher 2012: 94 
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