Dienstag, 15. Juli 2014

Sonya Winterberg / Wir sind die Wolfskinder-Verlassen in Ostpreußen (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Das Buch ging mir echt bis tief unter die Haut. Ich wollte es erst abbrechen, auch weil ich schon so viel über Hitlers Politik gelesen habe. Doch dieses Buch ist noch einmal eine Besonderheit. Hier geht es um Ostdeutsche, die bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg von den Russen verfolgt, vertrieben, misshandelt und massakriert wurden. Es ist heftig, aber für die Menschen, die diese Zeiten erlebt haben, und andere, die diese Zeiten nicht überleben konnten, für die muss man das Buch aushalten und bis zum Ende lesen. Denn ich erlebe diese Schreckensszenarien nur mental, während diese Menschen es live durchleben mussten. Sie konnten nicht weglaufen. Es ist gut, dass es solche Bücher gibt. Nun sind hier nicht die Juden die Opfer, sondern die Ostdeutschen, Menschen aus dem Osten Preußens. Auch dieses Buch zeigt, wie Kriege aus Menschen Monster machen; weil sie selbst bestialisch malträtiert wurden, und nichts anderes mehr im Sinn haben, als sich zu rächen.

Zur Erinnerung gebe ich nochmals den Klappentext rein:
»Niemand durfte uns weinen sehen ?« Ein Wolfskind aus KönigsbergHunderttausende Deutsche flohen Ende des Zweiten Weltkriegs vor der Roten Armee aus Ostpreußen und Königsberg. Immer wieder gingen Kinder auf der Flucht verloren oder erlebten die Ermordung der eigenen Familie. Andere mussten ohnmächtig mitansehen, wie ihre Geschwister verhungerten, die Großeltern aus Schwäche starben oder die Mutter einer Epidemie erlag. Auf sich allein gestellt, überlebten diese Kinder in den Wäldern des Baltikums. Man nannte sie »Wolfskinder«. Die Journalistin Sonya Winterberg hat die letzten Zeitzeugen dieser dramatischen Jahre besucht. Nach jahrzehntelangem Schweigen erzählen sie erstmals von der Angst, dem Hunger und der lebenslangen Einsamkeit. Aber auch von Menschen, die ihnen das Überleben ermöglichten und den Weg in die Zukunft wiesen.
Es ist kein Geschichtsbuch, und trotzdem ist es ein Buch, das narrativ und retrospektivisch über die Geschichte schreibt.

Ich zitierte aus dem Buch und zu dem Buch Hannah Arendt, deutsch-jüdische-amerikanische Publizistin:
Sofern es überhaupt ein >Bewältigen< der Vergangenheit gibt, besteht es in dem Nacherzählen dessen, was sich ereignet hat; aber auch dies Nacherzählen, das Geschichte formt, löst keine Probleme und beschwichtigt kein Leiden, es bewältigt nicht endgültig, es hilft aber, >die innere Wahrheit des Geschehens so transparent in Erscheinung< zu bringen, daß man sagen kann: Ja so ist es gewesen.
Ein Kollektivschicksal. Eine Kindheit hatten viele Kinder nicht, bzw. man hat sie ihnen genommen. Ein Wunder, dass es doch auch Kinder gab, die dieses Schicksal überlebt haben und erwachsen werden konnten. Ein Wunder, denn sie waren dabei, als deren Mütter von den Rotgardisten vergewaltigt wurden. Sie waren dabei, als die Großeltern erschossen oder erhängt wurden. Sie waren dabei, als die Familie an Hunger starb und sie als die einzigen Überlebenden übrig blieben. Kleinkinder, Kinder und Jugendliche. Der Krieg kennt keine Grenzen. Er kennt auch kein Pardon, nicht mal für die jüngsten Menschen dieser Erde. Viele elternlose Kinder waren in Arbeitslager nach Sibirien verschleppt. Andere in Waisenhäuser der damaligen DDR untergebracht. Über das Schicksal zu reden?, den Kindern wurde in den Waisenhäusern ein absolutes Redeverbot verhängt.

Zivilisten aus Ostpreußen wurden für die Politik Hitlers verantwortlich gemacht. Selbst als der Zweite Weltkrieg zu Ende war, hörte das Leid noch lange nicht auf. Die Kriegsfolgen zogen sich noch weit hin bis in die späten 1950er Jahre. Die Russen waren nicht besser als Hitler es war, doch auch sie waren Verletzte Hitlers.

Viele elternlose Kinder mussten für sich selbst sorgen. Sie streunen durch die Wälder wie Wölfe es tun, deshalb der Titel Wir sind die Wolfskinder. Ostpreußen zählte nicht mehr zu Deutschland, der nördliche Teil ging an Russland, der südliche an Polen … Viele hatten dadurch keine Heimat mehr.
Für die Wolfskinder aber teilt sich das Leben weniger in Krieg und Nachkrieg als vielmehr in die Zeit mit der Familie und die Zeit ohne Angehörige. Bei manchen erfolgte der Verlust der familiären Geborgenheit jäh - meist durch plötzliche Trennung oder gewaltsamen Tod. Andere erleben das Erlöschen der ganzen Familie durch Hunger, Seuchen oder Krankheit als einen nicht enden wollenden qualvollen Prozess, bis sie als Einzige übrig bleiben. (88)
Viele Kinder gingen nach Litauen, entweder zu Fuß oder sie schmuggelten sich in Waggons ein. Litauen wurde bekannt als das Brot- und Kuchenland. In Litauen bekamen die Kinder zu Essen. Bettelnde Kinder wurden nicht ohne Lebensmittel wieder weggeschickt. Einige Kinder konnten in Litauen sogar eine neue Familie finden. Viele blieben in den neuen Familien, weil sie nicht wussten, wohin sie sonst noch gehen konnten. Manche rissen aus den Familien wieder aus, weil sie schlecht behandelt wurden. Vereinzelt gab es aber Kinder, die blieben, obwohl sie schlecht behandelt wurden. Aber insgesamt haben sie mit den Litauern überwiegend positive Erfahrungen gemacht. Sie hätten sonst ohne deren Hilfe nicht überleben können. Es war allerdings den Litauern verboten, Flüchtlinge bei sich aufzunehmen. Wer erwischt wurde, wurde nach Sibirien verbannt. Litauen hatte seine Unabhängigkeit verloren und gehörte seit 1940 Russland an. Viele Litauer gingen das Risiko ein, zeigten Zivilcourage und nahmen trotzdem die Kinder bei sich auf. Die deutschen Namen ließen sie russifizieren, damit die Kinder im Land unauffällig leben konnten. Viele wurden nicht in die Schule geschickt, damit sie geschützt bleiben konnten, und halfen eher zu Hause im Haushalt, auf dem Hof oder als Hirtenjunge auf der Weide …

Die Russen waren so grausam, dass Kinder, die um Essen bettelten, regelrecht erschossen wurden. Die russischen Soldaten folgten einer Hasspropaganda, die sich für das rächen wollten, was die Nazi-Deutschen ihren Familien angetan hatten.
Preußen als vermeintlicher Hort des Nationalsozialismus wurde gleichgesetzt mit Ostpreußen, Königsberg zum Synonym des Militarismus und Faschismus stilisiert. In den Köpfen der 1,67 Millionen Soldaten, die in Ostpreußen zum Einsatz kamen, hallten einzig die Worte ihres Oberbefehlshabers Marschall Schukow wider: Die Zeit ist gekommen, mit den deutsch-faschistischen Halunken abzurechnen. Groß und brennend ist unser Hass! Wir haben unsere niedergebrannten Städte und Dörfer nicht vergessen. Wir gedenken unserer Brüder und Schwestern, unserer Mütter und Väter, unserer Frauen und Kinder, die von den Deutschen zu Tode gequält wurden. Wir werden uns rächen für die in den Teufelsöfen Verbrannten, für die in den Gaskammern Erstickten, für die Erschossenen und Gemarterten. Wir werden uns rächen für alles! Doch die Rache traf weniger die Schuldigen des Krieges, die Naziverwaltung, die SS-Schergen und die Politikgrößen, die sich längst aus dem Staub gemacht hatten, sondern jenen Teil der Zivilbevölkerung, der am wenigsten mobil war: Greise, Frauen und Kinder. Für sie begann eine nicht enden wollende Nachkriegszeit. (85)
Viele Jahre nach dem Krieg begaben sich mehrere, mittlerweile Erwachsene, Wolfskinder auf Spurensuche, in der Hoffnung, Familienmitglieder wiederzufinden. Sie wandten sich an das Deutsche Rote Kreuz, und andere beantragten bei deutschen Politikern humanitäre Hilfe. Sie wollten auch wieder die deutsche Staatsbürgerschaft zurückerlangen, die sie durch den Krieg verloren hatten. Viele mussten ihre Muttersprache neu lernen. Hatten sie ein Anrecht auf eine deutsche Rente? Sie gingen weder zur Schule, noch konnten sie gut verdiente Arbeiten nachgehen, weil die Schulbildung dafür nicht ausreichte. Sie zahlten also nicht in die soziale Staatskasse ein. Verloren in der Kindheit? Verloren auch im Alter?

Lest selbst. Es gibt viele Wolfskinder, die alt geworden sind, und viele, die wieder zurück in ihre alte Heimat möchten.
Dieses Buch zu lesen, ohne erneuten Hass zu entwickeln, ist schon eine Herausforderung, deshalb zitiere ich zum Abschluss den Gedanken einer Betroffenen:
Ich denke heute, dass es jedem Menschen gegeben ist, Gutes oder Böses zu tun, je nachdem in welchen Umständen er sich befindet. Der absolute Wille zu leben und zu überleben lässt Menschen Dinge tun, die sie nie für möglich gehalten hätten. (211)
Das Lesen des Buches bedeutete für mich, sich mit den Opfern zu solidarisieren. Wer sind die Opfer? Solidarität mit allen Verwundeten, Solidarität mit allen Hingerichteten und Gefolterten, Solidarität mit allen Verhungerten, ohne sie in Nationen einzuteilen. 
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Alle Religionen und alle unterschiedlichen Kulturen
 haben ihre Berechtigung,
solange sie anderen nicht schaden. (M. P.)

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