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Sonntag, 20. Januar 2013

Alan Philipps John Lahutsky / Wolkengänger (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

In Russland gibt es mehrere staatliche Einrichtungen, die nicht nur elternlose Kinder beherbergen, sondern auch behinderte- und Kinder aus sozial benachteiligten Familien. Es gibt das Babyhaus für Kinder bis zu fünf Jahren. In dem Babyhaus kommen alle Kinder hinein, die über eine körperliche und / oder geistige Beeinträchtigung verfügen und sei sie noch so gering.

Dann gibt es das Internat, ein viel zu schöner Begriff, geradezu euphemistisch verglichen zu dem, was es tatsächlich hergibt. In dem Internet kommen alles Kinder, die für das Babyhaus schon zu alt sind. In dem Buch wird es als eine Irrenanstalt für Erwachsene bezeichnet mit einer Kinderstation bis zu mehr als sechzig Kinder.

Dann gibt es das Kinderheim, in das gesunde Kinder eingewiesen werden, die aus einem schwachen gesellschaftlichen Milieu stammen, und die Eltern der Erziehung ihrer Kinder nicht mehr gewachsen sind. In diesem Buch allerdings geht es hauptsächlich um das Babyhaus und um das Internat.

Auf den ersten Seiten dachte ich erst, dass Mütter freiwillig ihre Kinder in die staatliche Obhut geben. Aber das ist so nicht. Eltern behinderter Kinder werden von den Ärzten überredet, ihre Kinder in eine Sondereinrichtung zu geben, da eine Sondererziehung sie überfordern würde. Russland schiebt behinderte Kinder ab, sie zählen nicht zur Gesellschaft dazu. Eine Körperbehinderung wird von einer geistigen Behinderung nicht unterschieden, wobei das ja egal  ist, da geistig behinderte Kinder auch förderungsfähig sind. Heute sind die Gesetze andere, kinderfreundlicher, dennoch können die Gesetze nicht eingehalten werden, da zu wenige Fördermittel in den jeweiligen Einrichtungen fließen und die Einrichtung nach wie vor unter einer permanenten chronischen personellen Unterbelegung leidet... . Auf sechzig Kleinstkinder kommt eine Betreuerin. Aber zumindest kann man heute die Einrichtung verklagen, was aber leider zu wenig geschieht.

In dem Buch ist Wanja der Held. Wanja kam 1989 zur Welt. In dieser Autobiografie versucht er sein tristes Dasein im Babyhaus, später in dem Internat, dann wie durch ein Wunder wieder zurückverlegt in das Babyhaus, zu verarbeiten. Wanja heißt heute John Lathusky, nach dem er von einer Amerikanerin, Schulpsychologin von Beruf, adoptiert wurde.
Doch bis es zu dieser Adoption kommt, vergehen viele Jahre. Und die Hürden der Bürokratie in Russland sind recht hoch und sehr kostenaufwendig... . Wenn ein Kind für eine Adoption in Frage kommt, dann wird es wie eine Ware behandelt... .

Das Internat hat KZ-Charakter. Die Kinder leben in einem großen Raum, und jedes Kind in einem Gitterbett, 24 Stunden lang. In dem Gitterbett leben sie wie Gefangene... .
Es gibt keine Förderung, nichts richtiges zu Essen, keine Kleider, und auch an die Luft wurden sie nicht gebracht. Gefangene Straftäter  haben es in einer Strafheilanstalt besser als diese Kinder. Die Kinder, voll traumatisiert und hospitalisiert, werden abgeschrieben. Sie werden nicht richtig gepflegt, kommen nicht regelmäßig auf die Toilette, so dass sie gezwungen sind, ins Bett zu machen. Sie verlassen selten das Kinderbett. Hier wie auch im Babyhaus bekommen die Kinder dunkle Gemüsebrühen, in Babyflachen abgefüllt, zugeführt, ganz gleich, wie alt die Kinder sind. Milch gibt es keine. Die meisten Kinder kommen nie mehr aus dieser Einrichtung raus.  Mir der Vollendung des achtzehnten Lebensjahrs gehen sie auf die Station für Erwachsene. Doch die meisten werden nicht erwachsen, überleben ihre Kindheit nicht. Wie im KZ werden die Kinder gehalten und kahl geschoren.

Kinder, die doch erwachsen geworden sind und vereinzelt nach ihrer Volljährigkeit aus der Einrichtung entlassen werden, geraten entweder in die Prostitution, oder sie wählen den Weg der Kriminalität, oder sie konsumieren Drogen oder dealen damit. Diese Kinder sind in der Gesellschaft nicht wirklich lebensfähig.

Wanja verbringt viele Jahre im Babyhaus. Er ist weder dumm, noch geistig zurückgeblieben. Er kam als leicht gehbehindert auf die Welt, zwei Monate zu früh, beide Elternteile waren Alkoholiker und die Ärzte waren der Auffassung, dass das Kind wegen der besonderen Förderung ins Babyhaus eingewiesen werden solle.
Eltern, die sich dafür entscheiden, ihr behindertes Kind bei sich zu Hause zu behalten, erhielten keinerlei Unterstützung von Seiten des russischen Sozialsystems. Wanjas Zukunft lag im Ausland. (…) Wie widersinnig war das alles, schließlich hatte man Wanjas Mutter gesagt, dass sie ihren Sohn abgeben solle, dass sie nichts für ihn tun könne und er die erforderliche professionelle Betreuung nur in staatlichen Einrichtungen erhalten würde. 265
Die Mutter handelte aus Liebe zu ihrem Kind, sie wollte das Beste für ihr Kind, demnach stimmte sie der Einweisung ins Babyhaus zu. Sie hatte keine Ahnung, was den Kindern in diesen Einrichtungen erwartete.

Die Chefärztin des Hauses erkennt wohl die Missstände in ihrer Einrichtung, wagte aber nicht, daran etwas zu verändern:
Sie war eine sowjetische Funktionärin, gewohnt, Befehle von oben auszuführen, und nicht, sich dagegen aufzulehnen, selbst wenn sie wusste, dass ihre Vorgesetzten einen verhängnisvollen Fehler begingen. Mir wurde klar, dass Adela im stalinistischen Russland groß geworden war, um eigenes Gedankengut für sich behielt. 88
Wanja hat Glück, durch seine Aufgeschlossenheit nimmt er Kontakt zu seinen Betreuerinnen auf. Auf diese Weise werden viele erwachsene Menschen auf ihn aufmerksam und kämpfen um seine  Zukunft, um sein Leben. Diese Menschen habe ich sehr bewundert. Wie gut, dass es auch solche Menschen gibt, Menschen, denen das Anliegen der Kinder an erster Stelle steht und für deren Rechte kämpfen.

Wanja kommt in ein Krankenhaus, um an den Beinen operiert zu werden. Für die OP haben sich seine Wohltäterinnen stark gemacht, sonst wäre nie eine Operation zustande gekommen. Nach der OP wird Wanja für die Weiterbehandlung ins Zentrum für Heilpädagogik überwiesen und nimmt an der Physiotherapie teil. Zum Erstaunen seiner amerikanischen Wohltäterinnen steht auf einem Schild geschrieben, dass kein Kind bildungsunfähig ist. Das zeigt, dass nicht alle Heil- und Fördereinrichtungen in Russland so eingerichtet sind, wie man es von den Heimen her kennt. Zumal die wenigsten wirklich wissen, an welchen Misständen die Heime leiden, da sie Fremde kaum in ihre Institutionen einlassen. Den Eltern wird empfohlen, die Kinder nicht zu besuchen, weil das ihrer Entwicklung nicht förderlich wäre.

Die neue und ambulante Einrichtung attestierte Wanja, dass er geistig nicht behindert sei und erkundigte sich über bisher erfolgte therapeutische Maßnahmen:
Während ich der Beurteilung dieses ausgemergelten sechsjährigen Jungen mit den dürren Beinchen zusah, versuchte ich mir vorzustellen, wie ein Außenstehender, der nichts über die Unart der staatlichen Betreuung in Russland wusste, wohl reagieren würde, wenn er Wanja in dieser Verfassung antreffe. Er wäre überrascht, dass keiner der Anwesenden zum Telefon griff und der Polizei einen Fall von schwerer Kindesmisshandlung meldete. Doch jeder im Raum wusste, dass hier kein Gesetzesverstoß lag, da der Staat billigte, wie mit Wanja umgegangen wurde. 157
Wanja, sowie auch die anderen Kinder, waren stark vernachlässigt und misshandelt, so dass sie sich sowohl in emotionaler als auch in entwicklungspsychologischer Hinsicht nicht altersgemäß weiter entwickeln konnten. Wenn ein Kind für das Babyhaus zu alt geworden ist, kommt eine Kommission in die Einrichtung und beurteilt das Kind als oligophren, als kretin, oder es erhält die Diagnose Idiotie, wenn es auf Prüfungsfragen falsch antwortet. Mit diesen Diagnosen wird die Überweisung ins Internat legitimiert.  Die Kinder wurden nicht auf diese Prüfung vorbereitet, da sie als unheilbar abgestempelt wurden. Behinderung galt in Russland allgemein als ein rein irreparables Defizit. Und somit haben die Kinder keine Chance, die Einrichtung vom Babyhaus ins Internat zu umgehen.
Beinahe acht Jahre lang hatte Wanja ein Leben geführt wie Oliver Twist: gezwungen, unterwürfig das an Nahrung anzunehmen, was ihm gegeben wurde, ohne je um etwas bitten zu dürfen. 218
Wanja hatte viele Potenziale in sich, dass ihm das Überleben in diesen Einrichtungen möglich machte. Es ist sowohl ihm, als auch seinen inländischen und auch den ausländischen Fördererinnen zu verdanken, dass er lebend aus den Einrichtungen wieder herausgekommen ist. In den Heimen gibt es hin und wieder ehrenamtliche Kräfte, die ein ganz anderes Auftreten zeigen, als die bezahlten Betreuer der Einrichtung. Allerdings sind die Betreuer auch dermaßen überfordert, da auf sechzig Kleinstkinder eine Betreuerin fällt. Sie übten ihren Beruf so aus, als wären die Kinder Maschinen. Im Internat war es noch viel schlimmer. Die Kinder wurden in ihren Betten alleine gelassen, die Tür wurde hinter ihnen einfach abgeschlossen. Das Personal zeigte sich erst wieder, als es Essenszeit war. Die Kinder waren verhaltensgestört, aber nicht weil sie so geboren wurden, sondern weil die Einrichtung sie so werden ließ. Spielsachen befand sich unbenutzt in den Regalen. Die Kinder waren regelrecht hungrig nach Förderung... .

Im Anhang, es gab auch ein Epilog, habe ich eine Textstelle gefunden, die mir recht gut gefallen hat.
Dieses Buch soll Menschen nicht in Gut und Böse einteilen. Es soll vielmehr die verschiedenen Stufen von Menschlichkeit aufzeigen. Wenn dieses Buch nur ein paar Gleichgültige zum Mitfühlenden werden lässt, dann hatte es sein Ziel erreicht.335
Auf den letzten Seiten ist zu entnehmen, was sich bisher in Russland verändert hat und wo es noch große Probleme gibt, trotz der Gesetzesänderung. Eltern sollen mehr angehalten werden, ihre Kinder nicht in Heimen abzugeben und ambulante Hilfe in Anspruch zu nehmen, die es damals noch nicht gab, obwohl 1990, ein Jahr nach Wanjas Geburt, sich die Kinderrechtskonvention einmischte und dazu beitrug, die Gesetze in Russland zu verändern, das jedes Kind als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu betrachten sei. Wanja und den anderen Kinder kamen diese neuen Gesetze leider nicht zugute.

Man weiß, dass Papier geduldig ist, und wie schwer es ist, die Gesetze einzuhalten, solange es keinen Kläger gibt. Obwohl die Gesetze in Russland nach Wanjas Zeit zum Wohle des Kindes nochmals geändert wurde, tut sich das Land nach wie vor schwer damit, Fördermittel für diese Kinder bereitzustellen. Die Kinder werden größtenteils nach wie vor wie Kinder minderer Klasse behandelt.

Mich hat das Buch an Emma Donaughs Buch Raum erinnert, da die Kinder sowohl im Babyhaus als auch im Internat meist nur in einem Raum gehalten wurden. Die Kinder lernten nicht was eine Sonne ist, was Wasser, etc. ist, wobei das Kind im Raum mit mütterlicher Liebe umsorgt und gebildet wurde.
Auch an Kaspar Hauser hat mich das Buch erinnert. In allen beiden Geschichten findet eine Absonderung statt, wachsen ohne Liebe und Förderung auf.

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„Musik ist eine Weltsprache“
         (Isabel Allende)

Gelesene Bücher 2013: 06
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86

Donnerstag, 17. Januar 2013

A. P. John Lahutski / Wolkengänger


Verlag: Kiepenheuer, 2010

 348 Seiten, gebunden

ISBN-10: 3378011084

Ein Restseller von 19,90 € auf 4,95 € reduziert






Klappentext

Er hatte keine Chance. Bis er aufstand. Und lief. Die ergreifende Geschichte eines Waisenjungen, dem niemand eine Chance geben will und der dennoch seinen Weg ins Leben findet. Als Wanja auf die Welt kommt, prognostizieren die Ärzte, dass er nie würde laufen können. Ihm droht ein Leben in den unmenschlichen Verhältnissen russischer Fürsorgeanstalten. Doch durch seinen Mut, seine Intelligenz und seinen unbändigen Willen entkommt er diesem Schicksal.Wanja kommt als Sohn einer Alkoholikerin verfrüht und mit nur einem Kilo Gewicht zur Welt. Als die Ärzte prognostizieren, dass er nie würde laufen können, gibt die ohnehin überforderte Mutter ihn in ein Waisenhaus. Da das russische Fürsorgesystem keinen Unterschied zwischen körperlichen und geistigen Behinderungen macht, überlässt man Wanja in einer Gruppe "hoffnungsloser Fälle" sich selbst. Es herrscht Mangel an allem: menschlicher Wärme, Kleidung, Nahrung, Spielzeug. In Gitterbetten angebunden, werden die Kinder mit Medikamenten ruhiggestellt. Doch Wanja geling es, sich selbst das Sprechen beizubringen und eine Gruppe ausländischer Hilfskräfte auf sich aufmerksam zu machen. Sie erkennen bald, dass viele der Kinder mit der richtigen Betreuung ein normales Leben führen könnten, und beschließen zu helfen. Doch die Rechtslage ist komplex und die russischen Behörden gleichgültig. Erst nach langwierigen Bemühungen gelingt es, Wanjas Adoption zu ermöglichen. Heute führt er als John Lahutsky ein völlig normales Leben - und er hat öaufen gelernt. Nur einen Wunsch hat der einstige Waisenjunge noch: das Ende der russischen Heime, in denen noch heute Tausende Kinder unter zum Teil unmenschlichen Bedingungen leben müssen.


Autorenportrait

John Lahutsky lebt heute bei seiner Adoptivmutter Paula Lahutsky, einer Schulpsychologin, in Pennsylvania, USA, und besucht die High School.»Es ist zuvorderst die Authentizität mit der Philps und Lahutsky ihre Leser aufrütteln. ... Dokumentarisch belegt das Buch Schicksale von Kindern, denen mit einfachen Mitteln ein erträgliches Leben hätte geschenkt werden können.« Freie Presse über: »Wolkengänger«