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Sonntag, 12. November 2017

Ian McEwan / Abbitte (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Gleich vorneweg gesagt; was für ein schönes Buch. Ich habe es soeben beendet. Ich liebe Abläufe, die nicht vorhersehbar sind. Davon gibt es in diesem Buch jede Menge. Auch das Ende ist für mich nicht vorhersehbar gewesen. Den Anfang und das Ende hat der Autor sehr ideenreich und gekonnt zusammengefädelt. Viele AutorInnen bemühen sich um diesen Stil, ihre LeserInnen zu überraschen, doch bei den meisten ist der Stil leicht zu durchschauen, sodass das Unvorhersehbare doch vorhersehbar wird. Ganz anders bei McEwan …

Damit diese Überraschungseffekte auch für andere LeserInnen erlebbar bleiben, möchte ich aufpassen, dass ich meine Besprechung so gestalte, dass ich nicht zu viel verraten muss. Leider kann ich nicht alles bedeckt halten ... 

Zur Erinnerung gebe ich erneut den Klappentext rein:
Die Abgründe und die Macht der Leidenschaft und der Phantasie: An einem heißen Tag im Sommer 1935 spielt die dreizehnjährige Briony Tallis Schicksal und verändert dadurch für immer das Leben dreier Menschen.

Briony Tallis ist eine kleine Künstlerin, eine Dichterin, die schon mit zehn Jahren angefangen hat, erste fiktive Texte zu schreiben. Mit 13 Jahren verfasste sie ihr erstes Theaterstück, das den Titel Die Heimsuchung Arabellas bekam. Sogar Brionys Mutter Emily war von dem Theaterstück angetan gewesen …

Die Familie Tallis hatte Besuch. Für eine unbestimmte Zeit lebten drei Cousinen von Briony bei ihnen. Mit ihnen zusammen wollte sie das Theaterstück zu Hause vorführen, um damit den älteren und schon erwachsenen Bruder Leon, der nicht mehr zu Hause wohnt, für willkommen heißen. Leon sollte mit seinem Freund zu Besuch kommen ...

Die drei Cousinen, zwei zehnjährige Zwillinge namens Jackson und Pierrot und die fünfzehnjährige Lola, sollten mit dem Theaterstück vertraut gemacht werden. Dabei gab es Rollenkonflikte, sodass Briony das Theaterstück wieder abblasen ließ, und es somit nicht mehr aufgeführt werden konnte.

Im Klappentext steht, dass Briony das Schicksal dreier Menschen beeinflusst. Eine ganze Weile dachte ich, dass es das Schicksal ihrer Cousinen sei, das sie durch bestimmte Ereignisse in andere Bahnen lenken würde. Diese drei Cousinen hatten derzeit durch die Trennung ihrer Eltern eine seelische Erschütterung zu verwinden. Vor allem für die Zehnjährigen verlief der Aufenthalt bei der Verwandtschaft als recht schwierig, da sie sich nach dem Heim und nach ihren Eltern zurücksehnten.

Emily konnte sich auch nicht wirklich um ihre kleinen Neffen kümmern, da sie eigene Probleme psychosomatischer Art zu bewältigen hatte, denn auch ihr Mann Jack war mehr abwesend als anwesend. Es schien mir, dass selbst sie beiden in einer Ehekrise schwelgen, die allerdings verdrängt wird. Jack scheint sich in Arbeit zu stürzen, man aber auch den Verdacht hegt, dass er eine Affäre mit einer anderen Frau hat. Emily ahnt zwar etwas, aber sie möchte eigentlich die Wahrheit gar nicht wissen und entwickelt eben psychosomatische Symptome wie die Migräne und zieht sich dadurch auch ins Schlafzimmer zurück, um mit damit fertig zu werden.

Diese Szenen haben mich schon sehr tief berührt. Und auch welchen Umgang die Kinder ohne die Erwachsenen untereinander pflegen. Manches an Fragen hat aber der Autor auch offengelassen; hatte nun Jack eine Affäre oder nicht?, wenn ja, wie lange wollte Emily noch wegschauen und ihre Migränenanfälle noch weiter ertragen? … Dies waren alles nur Nebenrollen, trotzdem spannend …

Die fantasiebegabte Briony lebt manchmal in ihrer Fantasiewelt, sodass sie oftmals nicht merkt, wie sie das eine vom anderen nicht auseinanderzuhalten weiß …

Die eigentlichen Protagonisten waren Cecilia, Brionys ältere Schwester, die Cousinen Lola und Robbie Turner, der Sohn der Haushälterin der Tallis. Robbie war in Cecilias Alter. Sie besuchten gemeinsam dieselbe Schule und machten danach an der Uni denselben Abschluss in Literaturwissenschaft. Allerdings bestand der viel begabte Robbie mit Auszeichnung. Cecilia mochte Robbie nicht besonders. Vielleicht  deshalb nicht, weil Robbie so erfolgreich war. Er hegte noch weitere ehrgeizige Pläne. Er hatte vor, im Anschluss seines Literaturstudiums unbedingt noch Medizin zu studieren. Das Medizinstudium wollte Brionys Vater finanzieren, da seine alleinerziehende Mutter als Hauswirtschafterin dafür das Geld nicht zur Verfügung hatte. Es kann sein, dass Cecilia darauf neidisch war, weshalb sie auf Robbie nicht gut zu sprechen war. Trotzdem ließ sie sich in der Bibliothek ihres Vaters mit Robbie auf eine sexuelle Bindung ein. Briony wird in der dunklen Bibliothek heimliche Zeugin dieses sexuellen Aktes, reimt sich dazu ihre eigene Wahrheit, was fatale Folgen für drei Personen dieses Romans haben wird, über die ich leider nicht sprechen kann.


Mein Fazit?

Es gab schon auch Szenen, die ich hinterfragt habe, speziell was die juristischen Vorfälle betreffen, dass ein kriminalistischer Fall nicht ausreichend untersucht wurde, was zur Folge hat, einen unschuldigen Menschen einzusperren. Es gab nur einen Zeugen, und dieser Zeuge war ein Kind. Die Zeugenaussage dieses Kindes wurde nicht auf die Richtigkeit hin überprüft.
Das war für mich nicht wirklich glaubwürdig … Oder hat es vielleicht etwas mit dem sozialen Rassismus zu tun, weshalb weder ein Verteidiger noch ein Richter gewillt war, das Verbrechen ausreichend zu untersuchen, selbst dann nicht, als nach fünf Jahren die Zeugin ihre Aussage wieder rückgängig machen wollte?

Auf diese Frage werde ich wohl keine Antwort erhalten.  

Meine Bewertung?


2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein


Zwölf von zwölf Punkten.



Weitere Informationen zu dem Buch

Ich möchte mich recht herzlich beim Diogenes-Verlag für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar bedanken.

Diogenes Taschenbuch 
544 Seiten 
erschienen am 26. März 2004 

978-3-257-23380-3 
€ (D) 13.00 / sFr 17.00* / € (A) 13.40 

Und hier geht es auf die Verlagsseite von Diogenes.

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Gelesene Bücher 2017: 51
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86


Montag, 3. April 2017

Ian McEwan / Kindeswohl (1)


Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Das Buch hat mir sehr gut gefallen. Ich habe lange dafür gebraucht, obwohl es nur 224 Seiten hat. Es ist halt kein Buch, bei dem man wie ein Schnellzug so durch die Seiten rast. Viele interessante, aber sehr ernste Themen werden darin behandelt. Ich habe schon auf Facebook dazu geschrieben, dass das Buch sehr viele ethische Fragen aufwirft, auf die man keine 08/15-Antworten finden kann. Hauptsächlich geht es um die aktive und die passive Sterbehilfe, und über lebenserhaltende Maßnahmen. Eine Gradwanderung, denn wann darf ein Mensch über sein Schicksal selbst entscheiden, und wann nicht, vor allem, wenn es um minderjährige PatientInnen geht, wie in diesem Band, das mit dem treffenden Buchtitel Kindeswohl deklariert ist.

Auf den ersten Seiten bekommt man es mit siamesischen Zwillingen zu tun und man mit der Frage konfrontiert wird, ob die Medizin das Recht hat, nach der Geburt ein Zwilling zu töten, um das andere zu retten? Die Kirche sagt nein, das sei allein Gottes Willen, zu entscheiden, auch wenn dabei das Risiko besteht, dass beide Kinder sterben. Aber einfach hat es auch das Gesetz nicht, denn … 
… (d)as Gesetz selbst hatte ähnliche Probleme, erlaubte es Ärzten doch andererseits, bestimmte unheilbare Patienten ersticken, verdursten oder verhungern zu lassen, und verbot andererseits die sofortige Erlösung durch eine tödliche Spritze. (2016,37)

Zur Erinnerung gebe ich erneut den Klappentext rein:
Familienrecht ist das Spezialgebiet der Richterin Fiona Maye am High Court in London: Scheidungen, Sorgerecht, Fragen des Kindeswohls. In ihrer eigenen Ehe ist sie seit über dreißig Jahren glücklich. Da unterbreitet ihr Mann ihr einen schockierenden Vorschlag. Und zugleich wird ihr ein dringlicher Gerichtsfall vorgelegt, in dem es um den Widerstreit zwischen Religion und Medizin und um Leben und Tod eines 17-jährigen Jungen geht.

Brisant geht es schließlich in den Szenen zu, als es um den siezehnjährigen Adam geht, der an Leukämie erkrankt ist. Er und seine Familie sind Mitglied einer religiösen Sekte, die eine Bluttransfusion verbietet, obwohl sich diese lebensrettend auf das Leben des Jungen auswirken könnte. Der Junge selbst lehnt die Bluttransfusion ab, da er von den Eltern und von der Kirchengemeinde stark beeinflusst ist. Das Krankenhaus wendet sich an das Gericht. Richterin Fiona wird beauftrag, sich dieses Falls anzunehmen. Sie entscheidet in diesem wie auch in anderen Fällen über Leben und Tod. Erstaunlich, dass selbst Adams Eltern ablehnend der Bluttransfusion gegenüberstehen. Sind Kinder nicht das Wichtigste, was Eltern besitzen können? Wie dieser Rechtsstreit ausgetragen wird, möchte ich an einem kurzen Zitat belegen. Im Gerichtssaal, ein Dialog zwischen Dr. Carter, der den Jungen im Krankenhaus behandelt und der Anwalt des Mandanten Mr Grieve:
>>Sie stimmen mir doch zu, Mr. Carter, (…) dass es ein fundamentales Recht eines jeden Erwachsenen ist, über seine ärztliche Behandlung frei zu entscheiden?<<
>>In der Tat.<<
>>Und dass eine Behandlung ohne die Einwilligung eines Patienten eine Verletzung seiner persönlichen Freiheit darstellen würde, womöglich gar eine Körperverletzung?<<
 >>Das sehe ich auch so.<<
>>Und Adam ist doch, nach den gesetzlichen Bestimmungen, fast schon erwachsen.<<
>>Auch wenn er morgen früh achtzehn werden würde, wäre er heute noch minderjährig.<< (76)

Das Streitgespräch setzt sich noch lange fort, es bleibt also spannend, wie es letztendlich entschieden wird.

Die Richterin Fiona Maye, die beruflich mit vielen unterschiedlichen Menschenschicksalen zu tun bekommt, hat eigene Sorgen. Ihr Mann begeht einen Seitensprung, weil sie beruflich zu sehr eingespannt ist, und kaum noch Zeit hat, sich im Rahmen ihrer Ehe um die eigenen Bedürfnisse und um die sexuellen Bedürfnisse ihres Mannes zu kümmern. Ihr Mann macht ihr ein Geständnis ... Es kommt zu einem Eklat.

In diesem Ehezwist kommt einem die Frage auf, ob Fionas Mann nicht das Recht hätte, seine sexuellen Bedürfnisse mit einer anderen Frau zu befriedigen, wenn die eigene Frau dafür nicht mehr zu gewinnen sei? 


Mein Fazit zu dem Buch?

Wie oben schon gesagt, hat mir das Buch sehr gut gefallen, sodass ich vorhabe, mir erstmal noch zwei andere Bücher von dem Autor vorzunehmen und so denke ich dabei an Die Nussschale und an Abbitte. Wenn diese beiden Bücher bei mir ebenso gut ausfallen sollten, erkore ich auch diesen Autor zu meinen Favoriten, und mache daraus ein Leseprojekt. 

Auch das Cover hat mich sehr angesprochen. Kein Foto, sondern ein Gemälde des jungen Adams. Anfangs wusste ich mit diesem Profil noch gar nichts anzufangen, da der Ehezwist der beiden Eheleute im Vordergrund stand, und ich dieses Cover noch gar nicht einzuordnen wusste ...  Auch den Titel fand ich gut gewählt.

Allerdings wurde Adam auf der Seite 112 mittig als schwarzhaarig und mit dunklen Augen beschrieben. Das entspricht aber nicht dem Profil auf dem Bild. Der Junge hat hier blaue Augen, und die Haare sind eher braun und mit schwarzen Strähnen abgebildet. Sollen die schwarzen Strähnen ein Kompromiss sein? Denn darf ein englischer Junge nicht schwarzhaarig sein? Und müssen es bei einem Engländer immer blaue Augen sein? Ist die Natur tatsächlich so einseitig? Nein, das ist sie eigentlich nicht, nur der Mensch ist es, der es nicht schafft, die Natur, so wie sie ist, und zwar bunt, zu akzeptieren …

Aber alles andere fand ich passend, insgesamt fand ich das Buch sehr gut gelungen.

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus

Zehn von zehn Punkten.


Weitere Informationen zu dem Buch:

Ich möchte mich recht herzlich für das zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar beim Diogenes Verlag bedanken.

   Taschenbuch: 224 Seiten, 12,00 €
    Verlag: Diogenes; Auflage: 1 (24. August 2016)
    ISBN-10: 3257243774

Und hier geht es auf die Website von Diogenes.
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Gelesene Bücher 2017: 14
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86


Sonntag, 19. Februar 2017

Leon de Winter / Geronimo (1)

Eine Buchbesprechung zu o. g. Lektüre

Das Buch hat mir recht gut gefallen, trotzdem musste ich mich fragen, was an der Geschichte real ist und was fiktiv? Vielleicht ein Mix von beidem? Wahrscheinlich hat Leon de Winter seine eigenen Theorien in dem Roman einfließen lassen. Absurd fand ich die Haltung der Amerikaner, zu wieviel Mann sie auf einen einzigen Mann losgestürmt sind, um einen Vergeltungsschlag zu den Terroranschlägen vom 11. September 2001 auszuüben. De Winter glaubt nicht daran, dass bin Laden von den Amerikanern erschossen wurde, wie uns dies die Medien weiszumachen versuchen. Letztendlich werden wir es nicht erfahren, ob Osama bin Laden von den Saudis gekidnappt und anschließend getötet wurde, oder von den Amerikanern. Mit dieser Frage setzt sich der Autor in seinem Buch auseinander und findet darin für sich eine Antwort.

Zur Erinnerung gebe ich erneut den Klappentext rein.
Ehlers»Geronimo« lautete das Codewort, das die Männer vom Seals Team 6 durchgeben sollten, wenn sie Osama bin Laden gefunden hatten. Doch ist die spektakuläre Jagd nach dem meistgesuchten Mann der Welt wirklich so verlaufen, wie man uns glauben macht? Ein atemberaubender Roman über geniale Heldentaten und tragisches Scheitern, über die Vollkommenheit der Musik und die Unvollkommenheit der Welt, über Liebe und Verlust. 
Wie dem auch sei, ich habe das Buch mit Spannung verfolgt. Ich werde mich hier auf ein paar wenige Szenen beschränken.

Usama bin Laden hat mich in diesem Buch etwas an den Charakter von Adolf Hitler erinnern lassen. Der eine Terrorist, der andere ein Diktator, so haben doch beide auch ihre herzliche Seite gezeigt. Adolf Hitler hatte auch starke väterliche Seiten in sich. Er sorgte für das Wohl seiner Frauen, die für ihn arbeiteten. Wenn diese Ängste äußerten, dann fand Hitler warme, wohlwollende Worte, um ihnen die Angst zu nehmen. Bin Laden konnte ebenfalls empathisches Verständnis aufbringen. Es geht hierbei um ein Kind, ein 12-jähriges afghanisches Mädchen, das als Flüchtling in Pakistan lebte. Das Mädchen trägt eine schwere körperliche Behinderung mit sich. Sie hatte keine Hände mehr, und auch deren Ohren waren verstümmelt. Das Kind hieß Apana, als bin Laden sie eines nachts als Bettlerin auf der Straße sitzen sah und sich Gedanken über ihre Behinderung machte. 
Das Mädchen stellte keine Gefahr dar. Eine behinderte Bettlerin. Er war eine größere Gefahr für sie als sie für ihn, denn sie war seinem Mitleid ausgesetzt. Das hatte er, wie er feststellte. Ein guter Muslim kümmert sich um die Schwächeren. Wer beschützt sie, wenn sie nachts von einem Mann belästigt wurde? Oder ließ sie sich missbrauchen, und war das für sie ein Weg der Nahrungsbeschaffung? (2016, 44)
Das Mädchen hatte hellblaue Augen und hielt den Kopf stark verhüllt. Sie hatte keine Familie mehr, ihr Vater wurde von den Taliban ermordet, die Mutter starb, als sie noch ein kleines Kind war.
Bin Laden wundert sich, als er sich ihr nähert:
Er sah keinen Schmutz. Sie stank auch nicht. Irgendjemand musste für sie sorgen. Und dennoch – was für ein grauenvolles Leben, als junge Frau in der Nacht allein, ohne die Geborgenheit der Familie. Warum hatte er, der Scheich, sie all die Male ihrem Schicksal überlassen? Jetzt gab er ihr zum ersten Mal ein Almosen? Der wunderbare USB-Stick, der Auslöser für seinen nächtlichen Ausflug war, hatte ihn zu ihr geführt. War es das, was Allah, der Allbarmherzige, jetzt von ihm verlangte: Mitgefühl für dieses verlorene Geschöpf?  (46)
Bin Laden nimmt das Mädchen mit zu sich in seinen Unterschlupf. Er wollte das Kind erlösen, damit sie nicht mehr zu leiden habe. Sie umbringen. Ob er dies tatsächlich macht, oder ob er sich weiterhin väterlich gibt, lasse ich offen.

Das Mädchen ist allerdings nicht durch Geburt behindert, sondern es wurde von den Taliban gefoltert, weil sie sich für die westliche Musik interessiert hatte und sie unbedingt Pianistin werden wollte. Man ertappte sie dabei, als sie CDs von Bach hörte, weshalb man ihr auch die Ohren abhackte. Sie schwärmte für Bach, dessen Musik, insbesondere die Goldberg-Variation, sie als göttlich empfand. Mir ist ein Rätsel, wie ein Mensch solche grausamen Verstümmelungen nur überleben konnte.

Wie sie dazu kam, als eine Muslimin Bach-Musik kennenzulernen, möchte ich nicht verraten.

Dann gibt es noch Jabbar, ein 16-jähriger pakistanischer Schüler, der später unbedingt Medizin studieren möchte und als Arzt via einer Greencard nach Amerika einwandern möchte. Sein Traum, Amerikaner zu werden und unbedingt Mitglied bei der US-Army zu werden, kann ihm niemand ausreden. Er ist Christ und heißt eigentlich John, der Name seiner Mutter ist Maria. Doch diese Namen sind in Pakistan nicht erwünscht, weshalb sie noch zusätzlich pakistanische Namen tragen. Jabbar lernt Apana kennen. Er fühlt sich stark zu ihr hingezogen und zwischen ihnen entwickelt sich eine außergewöhnliche Bindung …

De Winter hinterfragt in seinem Roman die amerikanische Aktion der CIA, der auch Tom angehört, der die Bekanntschaft mit Apana und Jabbar macht. Tom möchte Apana adoptieren. Er möchte sie mit nach Amerika nehmen, er weiß nur noch nicht, wie er das Mädchen durch die strengen Einwanderungsbehörden bringen kann. Aber da ist ja noch Jabbar und dessen Mutter, die er auch nicht zurücklassen kann, da sie alle miteinander verbunden sind …

Jabbar begibt sich auf gefährliches Terrain, als er bei bin Laden, dessen Haus von den Saudis gestürmt wurde, einen alten Hocker entwendet. Er weiß noch nicht, dass dieser Hocker sein Leben und das Leben seiner Mutter in Gefahr bringt, denn in dem Hocker befindet sich der mysteriöse USB-Stick, den bin Laden in dem Tischbein versteckt hat. Der Junge ahnt noch nichts von diesem USB-Stick, auf dem geheimnisvolle Informationen von bin Laden festgehalten sind.   

Als bin Laden von den Taliban verschleppt wird, realisiert der Al-Qaida-Chef noch gar nicht, wer seine Entführer sind. Er war sich sicher, dass es die Amerikaner seien. Die Kleider und die Gesichter der Entführer bleiben bedeckt … Bin Laden kann es nicht fassen, dass so viel Wirbel um einen einzigen Mann gemacht wird, wo es doch draußen noch zig andere Mitglieder der Al-Qaida gibt. Die Medien in Amerika verkünden bin Ladens Tod, dessen Leiche in den Ozean entsorgt worden sei. Sie wissen noch nicht, dass bin Laden noch lebt. Nur Vito ahnt, dass er noch am Leben ist, aber niemand möchte ihm glauben. …

Ich mache hier nun Schluss. Es ist ein spannender Roman, wenn auch viele Episoden sehr traurig enden.


Mein Fazit?

Es fällt mir schwer, mir zu dem Roman eine Meinung zu bilden, da der Inhalt doch größtenteils fiktiver Art ist, und man das Buch schwer als einen historischen Roman betrachten kann. Aber die Ideen, die der Autor in seinem Buch hat einfließen und die sich wie einen Thriller lesen lassen, fand ich interessant. Irritierend ist halt nur, dass Osama bin Laden wiederum die einzige reale Figur in dem Buch ist. Es wäre leichter, wenn der Autor sich in einem Nachwort ein wenig dazu geäußert hätte, wie er überhaupt zu seinem Stoff gelangt ist.

Aber die Geschichte wirkt literarisch recht anspruchsvoll und authentisch.  

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus

Zehn von zehn Punkten.


Weitere Informationen zu dem Buch

Ich möchte mich recht herzlich beim Diogenes-Verlag für das zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar bedanken.

448 Seiten 
erschienen am 01. September 2016 

978-3-257-06971-6 
€ (D) 24.00 / sFr 32.00* / € (A) 24.70 
* unverb. Preisempfehlung 



Und hier geht es auf die Verlagsseite von Diogenes. 

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Gelesene Bücher 2017: 07
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86



Sonntag, 4. Dezember 2016

Banana Yoshimoto / Lebensgeister (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Das Buch habe ich nun durch, und es hat mir recht gut gefallen. Wie ich schon in der Buchvorstellung geschrieben habe, behandelt die Thematik ein okkultes Thema. Der Umgang mit der Transzendenz, mit der viele Menschen nicht wirklich etwas anzufangen wissen. Verständlich, wenn die Grenzen von Diesseits und Jenseits sich auf einmal vermischen. Das ist auch schwer vorstellbar.

Mir selbst ist diese Thematik in der Literatur ein wenig vertraut und denke dabei an Haruki Murakami, an Isabel Allende, die sehr oft den magischen Realismus in ihren Büchern haben einfließen lassen.

Doch auch hier bei uns hat der altbekannte deutsche Autor namens Hermann Hesse sich mit diesen Themen literarisch befasst, und man diese in seinen Büchern Siddharta und Das Glasperlenspiel wieder findet. Mir haben diese Bücher auch sehr gut gefallen. Wobei seine Thematik sich eher um den Sinn des Lebens dreht, aber immer in Verbindung mit dieser außersinnlichen Welt.

Er setzte sich als Suchender mit den größten Weltreligionen auseinander, und fand seinen Frieden im Buddhistischen und im Hinduistischen, die verglichen zu anderen Religionen die spirituelle und die irdische Welt in ihren Alltag miteinbeziehen würden. Ich erinnere mich, dass er schrieb; der Mensch müsse sich eine Brücke bauen, damit er durch diese beiden Welten ein und aus gehen könne, auch, damit sie ihm vertraut und nicht mehr fremd erscheinen würden …

Zurück zum Buch, so gebe ich erneut den Klappentext rein:
Nach einem schweren Unfall und dem Verlust ihres Geliebten ist Sayoko nicht mehr sie selbst. Sie hat das Zwischenreich der Geister betreten und Geheimnisse der unsichtbaren Welt erfahren. In der Tempelstadt Kyoto lernt sie allmählich das Leben so zu akzeptieren, wie es ist: voller Ungewiss­heiten und Rätsel, dem Tod immer nahe, ob man jung ist oder alt. Aber sie begreift auch, wie einmalig und geheimnisvoll das Diesseits ist.
Durch den Verkehrsunfall, den die junge Protagonistin Sayo zusammen mit ihrem Freund hatte, erlitt sie sehr schwere Verletzungen und wurde dadurch in ein Nahtoderlebnis versetzt, sodass sie sich zwischen diesseits und jenseits bewegte. Sie konnte wieder reanimiert werden, während bei ihrem Freund die Verletzungen tödlich endeten.
Durch das Nahtoderlebnis entwickelt Sayo eine übersinnliche Gabe und ist in der Lage, den Geist verstorbener Menschen zu sehen. In Japan ist das nichts, wofür man sich verstecken müsste, so scheint es mir in dem Buch. Es liest sich wie eine Selbstverständlichkeit. Das mache ich an einer Szene fest, als Sayo vor einem fremden Haus steht, und sie eine Frau am Fenster stehen sieht. Sie wusste sofort, dass diese Frau ein Geist ist, als ein junger Mann aus dem Haus kam und er Sayo fragte:
>>Sehen Sie etwa meine Mutter?<<; fragte er gar nicht verwundert. (2016, 67) 
Sayo kann ganz offen über ihre Geistererscheinungen sprechen. Auch an anderen Orten, nicht nur hier an dem Haus.
Außerdem nahm Sayo nach dem Unfall ihr Leben viel intensiver wahr und war dankbar für ihr wiedererworbenes Leben, wobei sie in tiefer Trauer steckt, und sich innerlich immer wieder mit der Frage auseinandersetzen muss, weshalb nicht sie gestorben sei, sondern ihr Partner, der von Beruf Künstler ist und seine ganzen Kunststücke der Nachwelt hinterlassen hat. Die Eltern des Verstorbenen vermachen alles Sayo, die für sie wie eine Schwiegertochter ist. Die Beziehung zwischen Sayo und den Schwiegereltern hat mich sehr angesprochen und tief berührt.

Sayo besuchte einige Kneipen, denn gerade weil mich niemand behelligt und ich in Ruhe trinken konnte, nahm ich ab und zu unerwartete Dinge wahr.
Allein war man wacher, aufmerksamer als zu zweit. Es ist, als hätte man Augen auf dem Rücken und als könnten nur diese Augen gewisse Dinge sehen. Wenn man mit Freunden ausgeht und lacht und schwatzt, übersieht man sie eben – die geheimen Regungen des Herzens, die sich in kleinen unscheinbaren Zeichen äußern. 
Der Unfall und der Verlust ihres Freundes machten sie zu einem sehr weisen Menschen. Gedanken zu dem Tod:
Der Tod nimmt nicht mit dem Alter zu. Er ist immer bei dir. Ganz nah. Nur das Denken an den Tod nimmt zu und nagt an der Illusion, vor dem Unausweichlichen noch eine Weile sicher zu sein. (105) 
Die Bekanntschaft mit Ataro fand ich sehr interessant, da Sayo und er sie durch einen Todesverlust eines geliebten Menschen freundschaftlich eint. Sayo genießt die Beziehung zu diesem jungen Mann. Ataro ist männerorientiert, sodass beide ganz entspannt diese Freundschaft eingehen können, ohne sexuelle Gefühle füreinander zu empfinden.


Mein Fazit zu dem Buch?

Sayo, ein sehr selbstreflektiver Mensch ... 

Ich finde, der Autorin ist es sehr gut gelungen, diese schwierigen okkulten Themen mit in ihr Buch einzubauen, ohne dass sie kitschig oder gar sentimental wirken. Daher ist der Buchtitel Lebensgeister recht gut getroffen. Ich habe als Externe dieser vorliegenden literarischen Lebenswelt alles sehr authentisch miterlebt. Sayo hat nämlich ihre eigene Art, mit dieser Hellsichtigkeit umzugehen:
Ob es Geister gibt oder nicht, ob man sie sehen kann oder nicht, ob sie lebendig sind oder tot – diese Fragen waren mir gleichgültig. Es ist wie eine Halluzination. Es gibt hier nämlich alles. Doch die Menschen ziehen gerne Grenzen. (146)

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus

Zehn von zehn Punkten.


Weitere Informationen zu dem Buch

Dieses Rezensionsexemplar kam durch meine Lesefreundin Tina zu mir, die damit nicht richtig warm werden konnte. Dankeschön hier an Tina für den Aufwand, mir das Buch zuzuschicken.

Paperback 
160 Seiten 
erschienen am 28. September 2016 

978-3-257-30042-0 
€ (D) 15.00 / sFr 20.00* / € (A) 15.50 
* unverb. Preisempfehlung 

Und hier geht es auf die Diogenes-Verlagsseite. 

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 In der Landschaft der Herzen besitzt das Gute eine große, die Menschen ergreifende Kraft,
(Banana Yoshimoto)

Gelesene Bücher 2016: 67
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86











Sonntag, 30. Oktober 2016

Emanuel Bergmann / Der Trick (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Ich habe das Buch soeben beendet und ich bin ganz angetan davon. Ich habe gelesen, dass dieses Buch Bergmanns Debüt ist. Wahnsinnig gut gelungen. Von der ersten bis zur letzten Seite war das Buch mit Spannung erfüllt. Allerdings keine Spannung in Form von Action und Sensationsgier. Das Buch besitzt eine gewisse Tragik aber nicht durch die gesamte Handlung hindurch. Und viel Weisheit findet man darin. Zudem ist es noch ein Buch über Freundschaft. Der Autor hält mehrere Fäden in der Hand, und bewegt sie, ohne einen zu verlieren. Diese Art zu schreiben hat mich sehr tief berührt.

Man bekommt es hier im Wechsel mit zwei verschiedenen Perspektiven zu tun, Perspektiven aus unterschiedlichen Epochen und mit unterschiedlichen Figuren. Aber die Figuren begegnen sich irgendwann in der Gegenwart, die beiden Perspektiven bleiben bis zum Schluss dennoch weiterhin bestehen. Dieser Stil hat etwas Verspieltes und der immerwährende Wechsel von der einen in die andere Geschichte fordert ein wenig Kopfakrobatik  ...

Ich werde etwas um den heißen Brei reden …

Schon der Buchtitel Der Trick scheint auf den ersten Blick nichts Außergewöhnliches zu sein, und man glaubt, es geht nur um getrickste, banale Zirkuszauberei. Ja, dies schon, aber nicht nur. Hinter dem Titel steckt etwas ganz Anderes ... Das fand ich grandios …

Die tschechische jüdische Halbwaise Mosche Goldenhirsch, Künstlername Zabbatini, verlässt 1934 mit 15 Jahren seinen Vater namens Laibl, um in einen Zirkus einzutreten. Die Jahreszahl 1934 sagt schon aus, in welchen politischen Umbrüchen Europa sich befindet, hauptsächlich in Deutschland, und dies tiefen Einfluss auch auf Tschechien haben wird …
Mosche hatte außerdem die Nase von seinem Vater voll, der immerzu auf ihn eindrosch, wenn er nicht die Leistung erbracht hatte, die der strenge Vater von seinem Sohn eingefordert hat. Der Vater hatte als Rabbiner unter den Juden eine hohe Stellung inne, weshalb der Gelehrte sich so streng seinem Sohn gegenüber verhielt.
Laibls Lebensphilosophie ist:
Allein schon da zu sein, allein schon zu leben, (…) ist ein Gebet. (2016, 7.)
Mosche wird von Kröger, der Chef des Zirkus‘, Künstlername Halbmondmann, sofort angenommen. Mosche betont aber, dass er Jude sei, daraufhin die abwehrende Reaktion des Chefs:
„Erspar‘s mir. Wir sind beim Zirkus. Wir sind alle gleich“. Das hatte Mosche noch nie zuvor gehört. „Echt?“
Im Theater“, erwiderte Kröger, „ist jeder ein Edelmann, wir sind Künstler, und es gibt nichts Edleres als die Kunst.“ (138)
Nach der Probephase erkennt Kröger in dem Jungen eine gewisse Begabung. Und so wird Mosche in die Kunst des Magiers eingeführt und erhält den iranischen Künstlernamen Zabbatini. Mosche schlüpft in eine neue Identität und deckt sich mit viel Wissen über die iranische Lebensweise ein. Der Name Mosche Goldenhirsch ist somit abgeschrieben.
Mosche wird in die Lebensphilosophie der Magier und Zauberer eingeweiht.
… >>Denn wir sind die Nachkommen der Hohepriester von Persepolis. (…) Wir sind ihre Nachkommen, zumindest im Geiste. Wir sind die Sprecher der Götter und die Hüter einer zeitlosen Wahrheit.<<
>>Ja<<, sagte Mosche aufgeregt. >>Was für eine Wahrheit?<<
>>Die Wahrheit der Lügen.<<
>>Wie können Lügen wahr sein?<<
>>Wie nicht? Menschen sind begierig darauf, getäuscht zu werden. Sie wollen an etwas Größeres glauben. Wir aber geben ihnen etwas Kleineres, nur deshalb kommen sie. Die Magie ist eine wunderschöne Lüge.<< (158)
Im Zirkus bekommt Mosche die Rolle eines Clowns und hat dadurch selbst den SA-Männern gegenüber Narrenfreiheiten, da niemand von ihnen hinter der Maske einen Juden vermutet hat. Mosche nutzt seine Gunst, sich für das Leid, das sie den Juden zufügen, zu rächen. Er zieht einen SA-Mann an sich heran, und flüstert ihm ins Ohr, dass er, der SA-Mann, dieses Jahr sterben werde.
Er, Mosche Goldenhirsch, hatte die SA in Angst und Schrecken versetzt! (183)
Mosche verliebt sich heimlich in die Artistin Julia. Nur durfte der Chef nicht hinter diese Liebelei kommen … Aber er kam dahinter … Nun geschieht ein großes Szenario, das immense Auswirkungen für alle Beteiligten nach sich zieht …

Julia und Zabbatini gehen nun eigene Wege, nachdem der Zirkus durch tragische Umstände abgefackelt war.
Mosche macht sich auch ohne den Zirkus einen Namen als der große Zauberer Zabbatini.

Mosches Ruf wird bekannt. Nicht nur SA-Männer suchen seinen Rat. Auch Hitler wendet sich an ihn mit der Frage, ob die Juden die Nation in den Krieg treiben würden?

Dazu Zabbatini: 
Sie werden einen großen Frieden bringen. Einen Frieden, wie die Welt ihn noch nie gesehen hat. Ihr Name wird niemals in Vergessenheit geraten, mein Führer. (284)
Hitler war ganz gerührt und bot Zabbatini daraufhin an, ihn mit Adolf anzusprechen.

Leider hat Mosche als Zabbatini gewisse Risiken nicht bedacht, und es ist das eingetroffen, was ich befürchtet habe ...

Zabbatini, der Zauberer, der mit seiner Kunst sogar die Nazis täuschte ... Ich ahnte schon, dass ein Ereignis kommen musste, wie es gekommen ist. Grausam. Es konnte gar nicht anders kommen. Warum war Mosche nur so naiv? Wieso fehlte ihm dieser klitzekleine Weitblick? ...

In der zweiten Epoche, 2007, wird das Leben des zehnjährigen Max‘ erzählt, der auch aus einer jüdischen Familie väterlicherseits stammt. Seine Großmutter hat durch ganz besondere Umstände und durch besondere Menschen den Holocaust knapp überlebt ...

Permanent versucht sie über diese schreckliche Zeit mit ihrer Familie zu reden, doch niemand hat wirklich ein Ohr für sie, auch, weil sie immer und immer wieder dasselbe erzählen würde ...

Max‘ Eltern möchten sich scheiden lassen, und der Junge leidet fürchterlich darunter. Als der Vater schließlich auszieht, ist Max ganz außer sich. Während des Umzugs findet er unter den Musikplatten seines Vaters eine Platte, die aus dem Rahmen fällt. Max kann eigentlich mit Platten gar nix anfangen, aber der Titel stimmt ihn neugierig. Auf der Platte steht der Name des großen Zauberers Zabbatini. Max fragt seinen Vater, ob er die Platte haben könne. Der Vater schenkte sie ihm. Max zieht los, um den Plattenspieler in der Abstellkammer zu suchen.

Auf der Platte geht es um die Liebe, wie diese, die gefährdet ist, mit Zauberei wieder zu kitten ist …
Max ist von der Platte völlig hingerissen, die allerdings gerade dort einen Sprung aufweist, als es um diesen Liebeszauberspruch ging. Nun konnte Max nichts mit der Platte anfangen und begibt sich auf die Suche nach dem großen Zabbatini, da nur Zabbatini es schaffen könne, mit diesem Liebeszauber seine Eltern wieder zusammenzuführen …

In der Gegenwart nun angekommen, versucht auch Mosche mit jungen Leuten über seine Erfahrungen mit den Nazis zu sprechen. Schließlich zählt auch er zu den Überlebenden des Holocausts und musste schwere körperliche Züchtigungen über sich ergehen lassen.
„Fick dich!“, schallte eine Stimme entgegen. Zabbatini fühlte sich, als hätte ihn jemand geohrfeigt. Die jungen Leute starrten ihn alle voller Ekel und Verachtung an. Er schämte sich. Er war nicht wie die anderen. Seine Erfahrungen, im Krieg und auch davor, machten ihn zu einem Ausgestoßenen. In der großen Menschenfamilie war kein Platz für ihn. (313)
Mich hat diese Textstelle recht betroffen gestimmt. …
Auch andere Textstellen stimmten mich nachdenklich, wie z. B. dass es verboten war, Jude zu sein. Dies zumindest erkennt der kleine Max, als er schließlich durch einen anderen Menschen erfährt, welches Leid dieser und seine Großmutter als Juden widerfahren ist …

Wie es nun weitergeht und ob Max den Magier findet, bzw. ob er es schafft, seine Eltern zusammenzuführen, überlasse ich den LeserInnen selbst, es mit Hilfe der Lektüre herauszufinden.


Mein Fazit?

Zu gegebener Zeit möchte ich dieses Buch ein weiteres Mal lesen. Diese vielen Facetten möchte ich nochmals erleben und ein weiteres Mal auf mich einwirken lassen.

Mich hat recht traurig gestimmt, wie sehr diese Menschen wie Mosche und Max‘ Großmutter mit ihrer Geschichte alleingelassen sind. Schwerst traumatisierte Menschen, die selbst nach dem Zweiten Weltkrieg noch mit ihrem Schicksal allein gelassen wurden. Es gab zwar schon Psychotherapien, aber die waren zu dieser Zeit nicht verbreitet. Da musste jeder zusehen, wie er mit dieser Last weiterleben konnte
Erst später, zum Ende der Geschichte hin, wird Max‘ Vater zum ersten Mal bewusst, dass er, sein Sohn Max und weitere fünf Verwandte gar nicht am Leben wären, hätte seine Mutter den Holocaust nicht überlebt. Ein wenig absurd, dass nicht vorher genau hingeschaut wurde. Lernt ein Mensch immer erst, wenn das Schicksal ihn dazu zwingt?

Ich wünsche mir sehr, dass dieses Buch viele Menschen erreichen wird. Lesen wir nur aus Vergnügen, oder auch, um über bestimmte Ereignisse, mit denen sich unsere AutorInnen auseinandersetzen, zu sensibilisieren?
Bei mir ist auf jeden Fall beides der Fall …

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus

Zehn von zehn Punkten.


Weitere Informationen zu dem Buch:

Ich möchte mich recht herzlich für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar beim Diogenes-Bücherverlag bedanken.

Hardcover Leinen 
400 Seiten 
erschienen am 01. März 2016 

ISBN: 978-3-257-06955-6 
€ (D) 22.00 / sFr 30.00* / € (A) 22.70 
 

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Im Tod sind wir alle gleich, egal, ob Prinz oder Bettler.
(E. Bergmann)

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