Ein wunderbares, inspirierendes Sachbuch zur Pflanzenkunde, das mich sehr nachdenklich gestimmt und mein Bewusstsein
zu dem Leben der grünen Gewächse noch weiter geschärft hat. Man bekommt es hier mit
vielen neuen Erkenntnissen zu tun, von denen ich zuvor noch nichts gehört habe.
Aber manches kannte ich schon durch die Bücher von Peter Wohlleben, nicht nur, dass
Pflanzen in der Lage sind, untereinander zu kommunizieren, sondern sie wie
die anderen Mitseelen auch, Individuen seien. Ein paar weitere wichtige Aspekte fand
ich äußerst interessant, denn ich wusste nicht, dass Pflanzen ein Geschlecht
haben und sie demnach auch geschlechtsfähig wären und sie sich durch sexuelle
Fortpflanzung vermehren würden. Wie sie das machen, hat Mancuso sehr schön in
seinem Buch geschildert.
Hier geht es zum
Klappentext, zum Autorenporträt, zu den ersten Leseeindrücken und zu den
Buchdaten.
Um was geht es in diesem Buch? Im ersten Kapitel geht es um Pflanzen als Pioniere, als
Kämpfer und Heimkehrer. Im zweiten Kapitel geht es um Flüchtlinge und Eroberer.
Im nächsten Kapitel bezeichnet der Autor die Pflanzen als Kapitäne, dann als
Einsiedler und als Anachronisten zum Schluss. In jedem Kapitel geht der Autor
auf diverse Pflanzenarten ein und beschreibt sie in deren Unterschiedlichkeit
und Individualität.
Mancuso betrachtet die Pflanzen durch ihre
Verwurzelung als sesshafte Wesen, die aber nicht unbeweglich seien. Er
beschreibt recht anschaulich, wie diese Pflanzen es schaffen, sich trotz ihrer
Verwurzelung überall auf der Welt zu verbreiten und zu vermehren.
Er geht auch auf Pflanzen ein, die in Asien ihren
Ursprung haben, und sie es fertiggebracht haben bis ins 17 Jhd. auch in Europa
anzukommen und sich hier anzusiedeln. Mancuso beschreibt diesen Prozess als
eine Migrationsbewegung. Migrationsbewegung, damit hatte ich bisher immer Flüchtlinge
oder Arbeitsmigrant*innen in Verbindung gebracht. Nein, hier sind nicht die
Menschen gemeint, sondern die Pflanzen, die migriert sind. Verursacht durch
Nachbarpflanzen wie die Bäume oder durch Winde, durch Blätter oder durch Tiere,
die die Samen als Transportpartner verstreut bzw. weitergetragen haben. Selbst
über Meere gelangten verschiedene Samen auf europäisches Festland, ohne dass
sie durch das Salzwasser eine Zerstörung erfuhren.
Wenn
man sich mit Migrationsbewegung befasst, genügt ein Blick auf die Pflanzen, um
zu begreifen, dass es sich dabei um einen unaufhaltsamen Prozess handelt.
Mithilfe von Spuren, Samen und allen verfügbaren Transportmitteln verbreiten
sich die Gewächse von Generation zu Generation und erobern auf diese Weise neue
Lebensräume. (202, 10)
Der Autor zeigt auch auf, wie stark die Natur ist, dass
selbst auf Ukrainisch kontaminiertem Boden durch das Reaktorunglück Tschernobyl
zu beobachten sei, wie dort neue Pflanzen entstehen. Oder auf Fukushima in Japan. 2011
erlitt Fukushima durch ein Erdbeben einen Atomunfall, und dort sei ebenso zu
beobachten, wie neue Pflanzen auf der kontaminierten Erde wachsen und sich auch Wildtiere ansiedeln.
In Fukushima überlebten drei Bäume das
Reaktorunglück. An allen drei Bäumen soll jeweils eine Narbe zu sehen sein.
Es tröstet, dass die Natur symbolisch gedacht unser
Desaster verzeiht. Aber wenn wir weiterhin achtlos mit der Natur umgehen und sie
zerstören, dann zerstören wir in erster Linie uns. Und wir werden uns von der
Zerstörung nicht erholen, die Pflanzen aber schon. Deshalb gilt es, achtsam mit
der Natur umzugehen.
Anscheinend ist der Mensch noch um
einiges tödlicher für Pflanzen als radioaktive Strahlung. Durch sein
Fernbleiben wurde ungewollt ein riesiges Naturschutzgebiet geschaffen.
Trotz der Strahlung ist die pflanzliche und tierische Vielfalt inzwischen
größer als vor der Nuklearkatastrophe. Heute finden sich hier Luchse,
Waschbären, Rehe, Wölfe (… ) unterschiedliche Vogelarten, Hasen und
Eichhörnchen. Sogar der vor über einem Jahrhundert verschwundene Braunbär ist
zurückgekehrt. (23)
Macht dieses Zitat nicht nachdenklich? Dass der
Mensch für die Umwelt gefährlicher ist als radioaktive Strahlen? Das bedrückt
mich, wenn ich dies lesen muss.
Und die Pflanzen? Sie machten es sogar
noch besser als die Tiere. Pripjad war eine Stadt mit etwa 50.000 Einwohnern,
in der auch die meisten Mitarbeiter des nur drei Kilometer entfernten
Kernkraftwerks lebten. Sie wurde unmittelbar nach dem GAU vollständig
evakuiert. Kürzlich hatte ich die Gelegenheit, einen detaillierten Fotobericht
über den heutigen Zustand Pripjad zu sehen. Es ist unfassbar, aber 30 Jahre
nach der Katastrophe ist die ganze Stadt wie ein ukrainisches Angkor Wat mit
Pflanzen bedeckt. Pappeln wachsen auf Dächern und Birken auf Terrassen, während
Büsche aus dem Asphalt sprießen und sechsspurige Straße sich in grüne
Flüsse verwandelt haben. (Ebd)
Der Autor bezeichnet die Emigration der Pflanzen
auch als Zeitreisende. Durch alle Zeiten reisten Pflanzen mithilfe von
Transportpartnern durch den gesamten Erdball.
Zeitreisende existieren - zumindest
solche, die aus der Vergangenheit zu uns in die Gegenwart gelangen. Sie sind
überall zu finden und so zahlreich, dass wir sie schon gar nicht mehr
wahrnehmen. Wer sind sie? Natürlich die Pflanzen - wer denn sonst? Einige
Arten, vor allem Bäume, haben dank ihrer extremen Langlebigkeit, mit der kein
Tier sich messen kann, ganze Epochen überdauert, um bis in die heutige Zeit zu
überleben. Andere wiederum verwahren ihre Keimlinge in unglaublich
widerstandsfähigen Samen und ermöglichen auf diese Weise ihren Nachkommen die
Reise durch Raum und Zeit. (78)
Heimische Pflanzen? Gibt es sie?
Die meisten invasiven Tier - oder
Pflanzenarten, die wir heute kennen, sind auf diese Weise zu uns gelangt. Und
es gibt sehr viel mehr biologische Invasoren, als man meinen möchte.
Tatsächlich sind zahlreiche Arten, von denen wir glauben, sie seien schon immer
Teil unserer Umgebung gewesen, erst von mehr oder weniger langer Zeit
eingewandert. Viele Pflanzen, die wir heute als Teil unseres kulturellen Erbes
betrachten, waren ursprünglich Fremde, die sich inzwischen jedoch so gut
integriert haben, dass wir sie nicht mehr als solche erkennen. (34)
Interessant fand ich auch die Genmanipulation
verschiedener Pflanzenarten, deren Auswirkungen auf diese Pflanzen mir nicht
richtig bewusst war. Man raubt ihnen dadurch nicht nur ihre Identität, sondern
auch ihre Widerstandskraft. Die Genmanipulation durch die Lebensmittelindustrie birgt das Risiko, Pflanzen in ihrer Art auszurotten. Wer hat schon einmal eine Banane mit
Samen gesehen? Ich zumindest nicht. Und bald wird es auch keine Trauben mit
Kernen mehr geben und auch die Avocado ist auf bestem Weg, ihren Kern zu
verlieren. Die Gefahr ist, dass diese Früchte, Tochterpflanzen genannt, anfällig sind
für bestimmte Krankheiten. Sie sind nicht mehr resistent genug, diese abzuwehren. Eine
Massenabfertigung ähnlich wie wir sie von der Tierhaltung aus der
Landwirtschaft her kennen.
Beraubt man eine Pflanze jedoch die Möglichkeit, ihre eigenen Samen zu produzieren,
degradiert man sie vom Lebewesen zum bloßen Produktionsmittel in den Händen an
der Lebensmittelindustrie, die allein darüber entscheidet, welches Individuum
sich wann, wo und wie vermehrt. Und das ist noch nicht alles. Eine kernlose
Pflanze kann sich nicht mehr durch sexuelle Fortpflanzung vermehren, sondern
nur noch vegetativ. Auf diese Weise werden einige wenige Individuen
millionenfach reproduziert, Tochterpflanzen, die mit ihrer Mutterpflanze
genetisch identisch sind. Die daraus resultierende geringere genetische Vielfalt
birgt große Gefahren, denn ein einziger Parasit oder eine einzige Krankheit
kann genügen, um ganzen Populationen den Garaus zu machen. (132f)
Dies waren nur ein paar Gedanken, die ich hier festgehalten habe. In
dem Buch finden sich noch eine Reihe weiterer Gesichtspunkte, die nachzulesen mehr
als interessant sind.
Zum Schreibkonzept Ein sehr schöner, flüssiger Schreibstil. Das Buch
ist auf 138 Seiten in sechs Kapiteln mit Unterthemen gegliedert und in jedem Kapitel behandelt
der Autor verschiedene Pflanzenarten. Sehr schöne kontinentale Aquarellzeichnungen
sind mitabgebildet. Das Buch ist Mancusos Eltern gewidmet. Zum Schluss findet
man ein paar Anmerkungen.
Cover und Buchtitel
Beides super gut getroffen. Vor allem der Buchtitel hält, was er verspricht.
Meine
Meinung Es hat mir viel Freude bereitet,
dieses Buch zu lesen und es weckt meine Lust, am Thema dran zu bleiben.
Mein Fazit Ein sehr zu empfehlendes Sachbuch nicht
nur für Botaniker oder Pflanzenliebhaber*innen. Auch für ganz gewöhnliche Leser*innen wie mich hilft es, die eigene Sichtweise
zu unseren grünen Mitseelen zu hinterfragen und auch das eigene
Konsumverhalten ein wenig zu revidieren.
Wie ist das Buch zu mir gekommen? Ich habe vor ein paar Jahren eine italienische
Bücherfreundin auf Facebook getroffen, die mitbekommen hat, dass ich viele Fachbücher zu
Tieren lese und hat mir Mancuso ans Herz gelegt. Ja, den Pflanzen parallel zu den Tieren auch
Aufmerksamkeit widmen zu sollen, habe ich als ihre Botschaft aufgefasst. Ich habe zwar Peter Wohlleben
eifrig gelesen, aber wen kenne ich schon von Botanikern anderer Länder? Und
schon gar nicht aus Italien. In den deutschen Buchläden finden sich immer belletristische Genres zur italienischen Literatur, die griffbereit in den Regalen
stehen. Besonderheiten müssen bestellt werden. Aber wenn man einen Autor hier
nicht kennt, so kann es auch nicht bestellt werden. Deshalb ein großes Dankeschön
an Giovanna Calvo, die in Kalabrien lebt.
Schön fand ich auch, dass meine neue Bücherfreundin
P. G. das Buch als Bibliothekarin für ihre Stadtbibliothek anschaffen konnte,
nach dem sie es selbst gelesen hat. Genauso wie ich war sie von dem Buch sehr angetan.
2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck und
Verständlichkeit 2 Punkte: Sehr gute Umsetzung der Thematik. 2 Punkte: Sehr gute aufklärerische und kritische Verarbeitung 2 Punkte: Logischer Aufbau, Struktur und Gliederung vorhanden. 2 Punkte: Anregung zur Vertiefung, zum weiteren Erforschen und zur
Erkundung
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein
Zwölf von zwölf Punkten.
________________
Das Leben findet immer seinen Weg. (Stefano Mancuso)
Ich lese mit Verstand und mit Herz! Um die Welt, Menschen und die Tiere besser zu verstehen.
Der Mensch ist mehr als nur die biologische Erbmasse. Er ist, was er innerlich denkt und fühlt. (M. P.)
Die Herkunft eines Menschen Die Wurzeltheorie verdammt Menschen zu ewigen Ausländer*innen, nur, weil sie eine andere Hautfarbe, eine andere Religion oder einen anderen Namen tragen. Die meisten haben ihre Wurzeln dort geschlagen, wo sie geboren wurden und / oder dort, wo sie ihr ganzes Leben zugebracht haben.
„Bäume haben Wurzeln, doch Menschen haben Beine, und der liebe Gott wird sich schon bei der Einrichtung der Welt auf diese Weise etwas gedacht haben. Im Grunde sind wir nicht dazu da, ortsfest wie ein Baum zu leben“. (Denis Scheck im Interview mit Iris Wolf, aus ARD-Buchmessenbühne 2020)
Es lebe die menschliche Vielfalt in Deutschland und überall. (M. P.)
Was soll ich zu dem ausgelesenen
Buch schreiben? Die Lorbeeren teile ich ganz gerne schon gleich in meinen ersten
Zeilen meines Vorspannes aus. Aber dieses Buch hat mich eigentlich nach meiner Anfangseuphorie mehr ermattet.
Zu viele komplexe Themen auf wenigen Seiten.
Als ich mich gestern
Abend mit Anne über das Buch ausgetauscht hatte, Anne war damit
längst durch, sind in mir tiefere Gedanken noch gar nicht zu greifen gewesen. Ich
konnte sie erst am nächsten Tag, also heute, aus mir herauslocken, sodass ich sagen kann,
dass ich das Buch im Nachhinein dennoch als relativ gelungen
empfunden habe, wenn sich auch eine gewisse Differenziertheit an
Personenbeschreibung vermissen ließ, wie ich dies später noch begründen werde.
Im unteren Teil habe
ich eine kleine kritische Diskussion angeknüpft und dabei auch Romagnolo mit
Ferrante verglichen. Immerzu ist aus mir heraus während des telefonischen Austauschs mit
Anne ein Freudscher Versprecher herausgerutscht. Immer wieder vertauschte ich unbewusst Romagnolo mit
Ferrante, bis ich mich hinterfragt hatte, was mir diese Versprecher
sagen wollten? Tatsächlich konnte ich darauf eine hilfreiche Antwort finden,
die ich anderen Leser*innen nicht vorenthalten möchte.
Wer nicht zu viel im
Vorfeld über den Inhalt erfahren möchte, weil man das Buch selbst lesen möchte,
so bitte ich, sich nur die Buchvorstellung oder die Handlung vorzunehmen.
Hier geht es zum Klappentext, zum Autorenporträt, zu den ersten
Leseeindrücken und zu den Buchdaten.
Die Handlung In dieser Handlung bekommt man es in retrospektiver Form mit
einer italienischen Familie aus Piemont zu tun, die aus vier Genrationen
besteht. Doch die Held*innen dieser gegenwärtigen Familiengeschichte sind Paola De Giorgi,
16 Jahre alt, deren jüngerer Bruder Ricardo aber auch deren Schulfreunde
Antonio und Philippo Ferrari als Nebenfiguren. Paolo und Ricardos Eltern sind
wohlhabend. Hier wird Geld verschwendet, wo anderswo hart dafür gearbeitet
werden muss. Der Vater leitet eine Baufirma des Familienunternehmens seiner
Frau Monica namens Costa Costruzione und ist
von Beruf Bauingenieur. Paolas Mutter war eigentlich die Vorstandsvorsitzende dieses
Betriebes, bis ihr Mann diese Rolle von ihrem Vater zugetragen
bekommen hatte ... Beide Geschwisterkinder De Giorgi sind anders als der
Durchschnitt der Kinder. Ricardo ist körperlich schwerbehindert und geistig etwas retardiert, obwohl dieses Kind Schach spielt. Auch zeigt er autistische
Züge. Ricardos Behinderung passt nicht in dieses fadenscheinige Familienidyll.
Und auch Paola scheint vor allem für die Mutter körperlich zu unattraktiv, zu
plump, zu unperfekt zu sein, da sie nicht dem Schönheitsideal entspricht. Für
ihr Alter und ihre Größe ist sie eigentlich noch normalgewichtig, aber ihre
Mutter gibt ihr das Gefühl, fettleibig zu sein. Paoloa ist 1,74 m groß und
wiegt 75 Kilo. Außerdem leidet sie unter ihrem Pferdegesicht ... Paola ist eine reflektierte Jugendliche, kommt
dadurch mit ihren oberflächlichen Schulkameradinnen nicht zurecht. Auch bei
ihren Eltern eckt sie durch viele Fragen an, stößt an Mauern, versucht, Tabus
aufzubrechen, als z. B. plötzlich die Carrabinieri vor ihrer Haustüre steht ...
Sie spürt, dass das Familienglück mit Geheimnissen und Lebenslügen überschattet
wird. Sie vergleicht ihre Familie mit der von Antonio, der aus armen
Verhältnissen kommt. Antonio wohnt in einem sozialen Brennpunkt, der sich
Margeritensiedlung nennt. Diese Siedlung, die in Wirklichkeit PEEP (Piano, Edilizia Economica Popolare)
heißt, verabscheut Paolas Mutter, was für die Jugendliche auf Unverständnis
stößt ... Der Vater kommt abends spät nach Hause und zieht sich in sein
Arbeitszimmer zurück.
Das Hauptgeschehen spielt sich in der Gegenwart, im
Zeitalter der sozialen Netzwerke wie Facebook und Co ab.
Ähnlich wie im Vorgängerbuch Bella ciao bekommt man es auch hier mit einer kühlen und
liebesarmen Familie zu tun.
Zwischen Paola und Antonio entwickelt sich eine
leise Liebesbeziehung ... Paola fühlt sich zu ihm hingezogen, da er anders ist
als ihre anderen Schulkamerad*innen.
Die Autorin reißt in ihrem Buch recht sprunghaft
viele Problempunkte an, die ich mal aufgelistet habe, weil ich unmöglich auf
alle Themen eingehen kann, ich es aber gerne würde. Sie behandelt darin:
-Häusliche
Gewalt gegen Frauen in der ersten und zweiten Generation
-Patriarchisches
Gesellschaftssystem bis zur dritten Generation / Ungleiche Verteilung der
Geschlechterrollen
-Korruption
-Illegale
Geschäfte mit der Giftmüllentsorgung
-Gegensätze
Armut / Reichtum und Standesunterschiede aus den verschiedenen Generationen
-Identitätsprobleme
der jungen und der älteren Generation
-Tabus
-Fehlgeleiteter,
gesellschaftlicher Wandel
-Realitätsverzerrung
/ Realitätsflucht
-Jugendliebe
aus der zweiten und der vierten Generation mit Standesunterschieden
-Sozialrassismus
und patriotischer Rassismus
Eine zu starke Überfrachtung von Problempunkten, die
vom Schreibstil her nicht bis zum Schluss ausgehalten wurden.
Welche Szene hat mir nicht gefallen? Das waren ein Haufen Szenen, die ich zum Teil im
Groben gerne zusammenfassen möchte. Insgesamt scheint es hier um eine
italienische Familie zu gehen, die ihre Probleme von Generation zu Generation weitergegeben
hat, anstatt sich ihnen zu stellen, um sie zu bekämpfen. Ganz häufig zieht
die Autorin Parallelen zu den Fantasyromanen Harry Potter und Herr der Ringe zurate.
Wer diese Romane kennt, weiß, wie intensiv die Kämpfe gegen das Böse
ausgetragen wurden. Ganz häufig flechtet die Autorin Aragorn in ihren Erzählmustern
mit ein, der als ein Symbolträger für königlichen Mut steht. Er bekämpft das Böse samt
dem Schwert, packt es an der Wurzel ... Aus Harry Potter wird der Weasley Junge
Ron erwähnt, der bei einer Schlacht zusammen mit Hermine Voldemorts letzten
Horkrux zerstört. Im Gegensatz zu diesen mutigen Kriegern scheint die Familie De
Georgi in einem Status quo oder viel mehr einem Dornröschenschlaf verfallen zu
sein. Die Familienmitglieder ertragen lieber ihr unerträgliches Schicksal, indem sie die
Realitäten z. B. durch Shoppen und Erfüllung von Schönheitsidealen …
ausblenden, als sich einem Kampf zu begeben, der sie von dem Bösen befreien
könnte. Zu groß ist die Angst vor dem Statusverlust …
Welche Szene hat mir besonders gut gefallen? Besonders gut hat mir gefallen, dass Antonios
jüngerer Bruder Philippo keine Scheu vor Ricardos Behinderung hatte. Beide
Kinder gingen eine Freundschaft ein und spielten gerne miteinander Schach und
so trafen sie sich regelmäßig und heimlich zu Hause bei Antonio. Kinder sind
doch häufig die größeren Lehrmeister*innen verglichen zu vielen unreifen
Erwachsenen, wenn man bedenkt, dass Ricardo lange Zeit vor der Gesellschaft
versteckt wurde.
Welche Figur war für mich eine Sympathieträgerin? Es waren die Kinder Paola, Ricardo, Antonio und
dessen jüngerer Bruder Philippo. Die Rumänin Nina war die einzige Sympathische
von den Erwachsenen.
Welche Figur war mir antipathisch? Die gesamte italienische Erwachsenenwelt ist mir
übel aufgestoßen. Diese Oberflächlichkeit und diese Verlogenheit fand ich widerlich. Statt Probleme
anzupacken, um sie zu lösen, werden sie erfolgreich verdrängt, >denn Shopping, Paoletta, ist die einzige
Medizin<. Aus der Sicht der Großmutter.
Meine Identifikationsfigur Keine.
Cover und Buchtitel Das Mädchen auf dem Cover soll sicher Paola De
Giorgi sein. Aber ein
Pferdegesicht hat sie hier nicht. Sie wirkt eigentlich
recht hübsch und ansehnlich. Paola scheint durch die Mutter irgendwie in einer pubertären
Wahrnehmungsverzerrung zu stecken. Erst dachte ich, dass dieses Pferdegesicht
nur als eine Art Stimmung einer Jugendlichen dargestellt wird. Die innere
Wahrnehmung, die durch die Mutter hineingelegt ist, macht aus Paola keine
glückliche Jugendliche. Aber da sie auch von ihren Mitschüler*innen als Die Dickemit dem Pferdegesicht verspottet wird, scheint sie tatsächlich
etwas entstellt zu sein. Aber warum gibt das Cover dies nicht her? Will man die
Leserschaft nicht verschrecken? Schade, dass man den Leser*innen immer schöne Bildchen
anbieten muss, um die Leselust zu stimulieren. Ich bin somit wieder neugierig auf
das Originalcover geworden, das mich aber noch viel weniger angesprochen hat
als das von Diogenes.
Und der Buchtitel?
Dieser geht mehrmals aus dem Kontext hervor. Dieses ganze Leben übernommen aus dem Italienischen. Was machen wir aus unserem Leben? Wie füllen wir es aus? -
war eine Frage, die sich mir aus dem Kontext heraus gestellt hat.
Zum Schreibkonzept Dieser
Familienroman ist auf 268 Seiten gepackt. Bevor es in die Familie geht,
befinden sich auf den ersten Seiten eine Widmung und zwei einleitende Verse verschiedener
Dichter. Das Buch ist nicht in Kapitel gegliedert. Es beginnt mit dem Monat
April der Gegenwart. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive der
16-jährigen Paola. Am Schluss findet man eine Anmerkung und die übliche Danksagung.
Ein paar kritische Gedanken
Was fand ich besonders an
diesem Buch? Besonders fand ich an diesem Buch, dass die
mittellosen Kinder Antonio und Philippo in der Schule Klassenbeste waren und
sie das Gymnasium besuchten. Endlich mal ein ins Deutsche übersetzter italienischer
Roman über ärmere Kinder, die nicht als bildungsunwillig dargestellt wurden.
Antonio sollte nach dem Abitur zur Uni wechseln und ging während der
Sommerferien einer Aushilfstätigkeit nach, um etwas Geld dazuzuverdienen.
Besonders fand ich auch, dass die Figuren in ihrer
äußerlichen Erscheinung wie Haar- und Augenfarbe durchmischt waren.
Besonders fand ich auch viele unterschiedliche
Geschichten anderer Genres zum Vergleich, um die Probleme der Figuren zu
verdeutlichen bzw. um ihnen den Spiegel vorzusetzen. Neben den Figuren aus den beiden
Fantasieromanen denke ich hierbei auch an die Geschichte von Ciccio Kopflos.
Dieses Einfließen jener Geschichten fand ich kreativ sehr gelungen.
Allerdings ist unser Menschenleben kein zurechtgestrickter Fantasieroman, in dem
man die Fäden der Figuren dahin lenken und strecken kann, wo man sie haben möchte. Im wirklichen Menschenleben bleibt vieles unberechenbar und unvorhersehbar.
Realitätsüberprüfung Der Rassismus zwischen den Nord- und den
Süditaliener*innen ist heute weitestgehend nicht mehr anzutreffen, während bei
Romagnolo die Süditaliener*innen noch immer mit dem abwertetenden Schimpfwort
als terrone bezeichnet werden, die einen
Status ähnlich wie Flüchtlinge aufgedrückt bekommen. In der Form, dass sie z.
B. wieder zurück nach Hause gehen sollen. Aber dennoch finde ich es gut, dies
zum Thema zu machen. Rassismus ist in Italien nach wie vor verbreitet, meist
aber Menschen gegenüber, die aus anderen Kontinenten kommen. Andersherum gibt es aber auch recht viele Italiener*innen, die sich für diese Menschen sogar einsetzen.
Zu dem Rassismus den Landsleuten gegenüber habe ich
verschiedene Südländer*innen befragt, die im Norden des Landes ihren Wohnsitz
haben. Sie klagten über keinerlei Diskriminierungen etc. Sie fühlen sich
gleichbehandelt.
Das hat mich gefreut zu hören, weil es ja doch Entwicklungen
zu geben scheint. Aber gewisse Vorurteile wird es auch immer geben, das ist mir
bewusst, dass sie bei einigen Menschen, wie überall auch, nicht auszurotten sind.
Auch behinderte Menschen werden nicht mehr
von der Gesellschaft versteckt, sondern in der Gesellschaft integriert. In den
Schulen werden behinderte Kinder inkludiert. Was verkauft uns Romagnolo für ein
italienisches Menschenbild? Behinderte Menschen haben es in diesem Land nicht
besser und auch nicht schlechter als woanders in Europa auch. Behinderte
Menschen werden je nach Grad der Behinderung sogar in verschiedenen beruflichen Sparten eingesetzt.
Schlechtenfalls bilden sie eine Parallelgesellschaft, wie sie auch in
Deutschland anzutreffen ist. Auch in Deutschland ist die Inklusion längst kein
abgeschlossener Prozess.
Italien war immerhin eines der ersten
Länder, das behinderte Menschen in den 1970er Jahren aus Isolier- und Verwahrstationen befreit hat … In belletristischer Literatur, die ins Deutsche übersetzt werden, tauchen diese und andere Entwicklungen des Landes nicht auf, hierbei muss man auf Fachbücher oder auf Biografien zugreifen, was ich sehr schade finde, weil diese Art von Büchern von vielen nicht gelesen werden.
Hier ein Link zur Behandlung von
behinderten Menschen in Italien.
Was hat mir gefehlt? Mir haben erwachsene Figuren mit differenzierteren
Charakterstrukturen gefehlt. Überall auf der Welt gibt es verschiedene
Menschentypen, die ihr (kompliziertes) Leben unterschiedlich in die Hand
nehmen. Auch in Italien gibt es jede Menge Kämpfernaturen, die sich nicht mit
ihrem durch die Geburt verschrienen Schicksal einfach zufriedengeben und
gestalten daraus das Bestmögliche. Auch in Italien gibt es Menschen, die
komplett andere Wege gehen als die Figuren in diesem Roman. Diese Art von
Menschen haben mir hier einfach gefehlt. Neben dem Bösen hat mir das
Gute gefehlt.
Mitunter auch fehlende Vorbilder Ein anspruchvolles Buch, das nicht nur zur reinen Unterhaltung dient, sollte auch positive Vorbilder aufleben lassen und nicht ausschließlich über abschreckende Figuren schreiben.
Romagnolo und Ferrante im
Vergleich Ist Romagnolo vielleicht die Antwort auf Ferrante?
Das erweckt den Eindruck, wenn man Ferrante naiv liest und man Romagnolo
mit ihr vergleicht. In den Familien beider Romane gibt es wenig differenzierte
Charaktere unter den Erwachsenen, während bei Ferrante die Menschen durch
ihren existentiellen Kampf von Grund auf als böse, dumm und als gewaltsam triebgesteuert
dargestellt werden, so könnte man bei Romagnolo glauben, dass sie das sind,
weil sie sich nicht mit ihrem Schattendasein befassen. Diese Figuren packen in
beiden Romanarten das Übel nicht an der Wurzel, um es herauszureißen und
bleiben ewig in ihrem Leid und in dem Bösen gefangen … Wären wirklich alle
Menschen dort gleich, könnte man das auch tatsächlich so glauben und so
hinnehmen. Sie sind aber nicht alle gleich. Das habe ich schon als Kind
begriffen, dass die Welt überall unterschiedliche Charakterformen hat, selbst
dann noch, wenn man einer homogenen Gesellschaft angehört. Überall auf der Welt
gibt es gute und weniger gute Menschen. Und das ist nicht mal abhängig vom
sozialen Hang und Rang der verschiedenen Gesellschaftstypen eines Landes. Warum
sollte das in Italien denn anders sein?
Eine
italienische Apokalypse Wie bei Ferrante ist auch dieses
Buch von einer Apokalypse gezeichnet, und ich mich frage, wie es kommt, dass
Italien nicht längst dem Untergang geweiht ist? Irgendwas Gutes muss es auch in
diesem Land geben, wenn das Böse so mächtig ist, das am Ende sich selbst
auffressen müsste. Mit einem Lupenblick suchte ich vergeblich nach gesunden
Erwachsenen … Ich suchte vergeblich nach der zweiten Seite der Medaille, was
ich sehr schade fand.
Deshalb weigere ich mich, dieses einseitige
italienische Menschenbild anzunehmen, auch wenn mir die Probleme dort durchaus
bewusst sind. Aber sie haben auch Stärken. Mir wurde immer wieder
von Italiener’innen versichert, dass ich nach Italien kommen sollte und
italienische Bibliotheken aufsuchen müsste, wenn ich über ein differenzierteres
Italien lesen möchte. Warum werden diese Bücher nicht ins Deutsche übersetzt?
Ich bin der italienischen Sprache leider nicht mächtig genug, um diese Bücher
verstehen zu können. Aber ich freue mich, dass ich Zugang zu diesen Menschen
habe und ihnen Fragen stellen kann, die mir helfen, sie mit differenzierten
Antworten zu füllen.
Mein Fazit Absolut ein beachtenswerter Roman für kritische Leser*innen. Für Unkritische hinterlässt das
Buch leider wieder ein nur sehr einseitiges und klischeehaftes, stereotypes italienisches Gesellschaftsbild, das die Menschen auf ihre Schwächen und Probleme reduziert. Da ich dieses Bild durch deutsche Medien aber schon von Kind auf nur zu gut kennenlernen musste, bin ich reichlich gesättigt davon, daher hat es für mich nun die Konsequenz, von übersetzter italienischer Belletristik auf
Biografien umzusatteln. In guten Biografien bekommt man es mit
Tatsachenberichten zu tun. Mit Oriana Fallaci war ich z. B. mehr als positiv
überrascht. Diese fiktiven Romane, die über Jahrzehnte hinweg eine einseitige italienische Lebenswelt darstellen, muss
ich leider immer wieder hinterfragen, weil sie mir durch ihre
Undifferenziertheit so wenig glaubhaft erscheint.
Wie ist das Buch zu mir gekommen? Da ich von der Autorin den historischen Roman Bella ciao gelesen habe, der mir viel besser gefallen hat, bin ich auf die neue Romagnolo durch den Diogenes Verlag aufmerksam geworden.
Meine Bewertung
2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe
Schreibweise) 1 Punkte:
Differenzierte, facettenreiche Charaktere 1 Punkte:
Authentizität der Geschichte; künstliche oder glaubwürdige Erzählweise 2 Punkte:
Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt 1 Punkte: Frei von
Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus 1 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein
Acht von zwölf Punkten.
Vielen herzlichen Dank an den Diogenes Verlag für fas Leseexemplar.
Ich lese mit Verstand und mit Herz!
Um die Welt, Menschen und die Tiere
besser zu verstehen.
Der Mensch ist mehr als nur die biologische Erbmasse. Er ist, was er innerlich denkt und fühlt. (M. P.)
Die Herkunft eines Menschen Die Wurzeltheorie verdammt Menschen zu ewigen Ausländer*innen, nur, weil
sie eine andere Hautfarbe, eine andere Religion oder einen anderen Namen
tragen. Die meisten haben ihre Wurzeln dort geschlagen, wo sie geboren wurden
und / oder dort, wo sie ihr ganzes Leben zugebracht haben.
„Bäume haben Wurzeln, doch Menschen haben Beine, und der liebe Gott wird
sich schon bei der Einrichtung der Welt auf diese Weise etwas gedacht haben. Im
Grunde sind wir nicht dazu da, ortsfest wie ein Baum zu leben“. (Denis Scheck im Interview mit Iris Wolf, aus
ARD-Buchmessenbühne 2020)
Es lebe die menschliche
Vielfalt in Deutschland und überall. (M. P.)
Ein Buch, das nach Leben und Menschlichkeit schreit
Ich habe viel über
dieses Buch schon während des Lesens nachgedacht, dass ich gerne darüber schreiben
möchte. Es ist mit so vielen Post it beklebt, dass es mir zeigt, mit wie viel
Facetten mich diese Lektüre doch begleitet hat. Ich werde leider nicht alle
Buchseiten bearbeiten können und stehe vor einer schwierigen Entscheidung.
Es gibt so viele
Szenen, die mich innerlich beschäftigt haben, dass ich sie unbedingt hier
festhalten möchte. Wie soll man sonst über ein Buch sprechen, wenn man so viele
Gedanken unterdrücken muss??? Ich schreibe gerne, und ich denke gerne, das bin
ich, wenn ich mich durch eine so gute Lektüre wie diese ausdrücken darf und
mir keine Verbotsschilder aufgesetzt werden. Schweigen kann ich später in meinem
Grab, wenn mein Leben vorbei ist. Ich lese, also bin ich …
Wer inhaltlich im
Vorfeld nicht so viel erfahren möchte, bitte ich nur die Buchvorstellung zu
lesen, mit der man sich hier weiter unten verlinken kann ... Wer aber Dinge
über Italien lesen möchte, die bislang weitestgehend unbekannt waren, lade ich
zum Weiterlesen ein. Es bleiben trotzdem noch viele wichtige Punkte übrig, die
ich hier unerwähnt gelassen habe.
Ich nutze durch
Romagnolo die Gelegenheit, zu ihrem Buch an mein Wissen anzuknüpfen, das ich
durch verschiedene Fachbücher zu Italien mir erworben habe.
Und am Ende der Buchbesprechung verlinke ich zu einem amerikanischen Spielfilm mit dem Titel Im Teufelskreis der Armut, den man sich kostenlos anschauen kann.
Hier geht es zum
Klappentext, zum Autorenporträt, zu den ersten Leseeindrücken und zu den
Buchdaten.
Die Handlung Die Handlung gebe ich sprunghaft wieder, wie ich dies beim Lesen erlebt habe.
Die Heldin dieses epochalen Familienepos ist Giulia
Masca, die als ganz junges Mädchen schwanger von zu Hause ausgebrochen ist. Sie
hat all ihre Ersparnisse zusammengekratzt und sich auf ein Schiff nach Amerika
begeben. Geschuldet war die Flucht nicht der Schwangerschaft, sondern dem
Partner Pietro Ferro, der sich mit einem anderen Mädchen namens Anita Leone
zusammengetan hat. Pietro und Giulia kennen sich seit frühster Kindheit und
waren sicher, wenn sie groß sind, würden sie gemeinsam in den Bund der Ehe
treten ...
Die Handlung beginnt in New York, als Giulia über
ihre Vergangenheit im italienischen Piemont reflektiert. Es ist das Jahr 1946.
Giulia ist 1901 von zu Hause abgehauen, ohne ein Sterbenswörtchen der Mutter zu
hinterlassen. Der Vater, der unter einer Alkoholsucht litt, kam ums Leben, als Giulia gerade mal acht oder neun Jahre alt war. Die
Handlung bewegt sich in der Erzählweise im Wechsel zwischen Borgo di Dentro und
New York ...
Das Schicksal wollte es anders. Giulia ging nun
nicht die Ehe mit Pietro ein, sondern mit einem nach Amerika eingewanderten
Italiener namens Libero Manfredi, der doppelt so alt ist wie Giulia selbst. Während
Manfredi vorurteilslos sich dem jungen schwangeren Mädchen annimmt, wird Giulia
von dessen Familie als Hure verspottet … Als Giulias Kind auf die Welt kommt,
nimmt Manfredi diesen Sohn wie einen eigenen an und gibt sich als seinen Vater
aus. Manfredi ist Krämer von Beruf. Er ist ein Illiterat, hat nur Rechnen
gelernt. Als Krämer hat er es dennoch geschafft, sich in Amerika durch mehrere
Läden einen Namen zu machen. Verkauft werden viele italienische Produkte.
Pietro ging hingegen die Ehe mit Anita ein, die zur
selben Zeit schwanger wurde wie Giulia. Beide junge Frauen fühlten sich zu
Pietro hingezogen, nur wusste die ahnungslose Giulia dies nicht.
Als sie wortlos verschwand und sie nicht
wiedergefunden werden konnte, plagten Anita und Pietro stille Schuldgefühle.
Auch Anita
bringt einen Sohn zu Welt, der den Namen Nico erhält ...
Ihren Mann Pietro
verliert Anita im Zweiten Weltkrieg. Später auch ihren Sohn, indem er von deutschen Soldaten tödlich verletzt wurde.
Giulia ist aber durch die Flucht auch der Armut und
der harten Arbeit entronnen. Sie stammt wie viele ihrer Landsleute aus
ärmlichen Verhältnissen, die weder lesen noch schreiben konnten. Die Reichen im
Land übten Druck auf die Kleinen aus und ließen für einen Hungerlohn für sich
arbeiten. Trotz der Schulpflicht wurde Giulia nach drei Grundschuljahren von
der Bildungseinrichtung genommen, um zusammen mit ihrer Mutter in einer
Seidenspinnerei zu arbeiten. Durch die Ausbeutung der Arbeitskräfte sind die
Menschen unzufrieden und es kommt zu schweren politischen Unruhen und Krawallen.
Die Sehnsucht nach Gerechtigkeit, nach Freiheit und Gleichheit, nach
Barmherzigkeit ist groß, wofür die Menschen bereit waren zu kämpfen…
Giulia fragt sich häufig, ob sie mutig war, einfach
auszubrechen oder war sie nur zu feige, ihre Konflikte zu klären und auszutragen?
Nach über vierzig Jahren kehrt Gulia mit ihrem
erwachsenen Sohn Michele für drei Wochen nach Piemont zurück und hofft, ihre
Mutter, Pietro und Anita wieder zu sehen …
Welche Szene hat mir nicht gefallen? Es waren recht viele Szenen, die mich beim Lesen sehr
traurig und nachdenklich gestimmt haben. Ich entscheide mich für drei folgende Episoden,
die ich hier gerne niederschreiben möchte.
Episode 1- Giulias Bruch mit ihrer Nation und der Mutter Sehr traurig fand ich den plötzlichen Abbruch
Giulias zu ihrer Mutter. Giulia selber ist mit ihrem Gewissen geplagt, weshalb
sie nie den Namen ihres Mannes hat annehmen können. Sie trug auch nach der
Heirat noch ihren Mädchennamen Giulia Masca.
>Ich
bin nicht du, Mama< Hat sie es deshalb nie geschafft, sich ganz als Giulia
Manfredi zu fühlen, oder auch einfach als Giulia? War sie zu sehr damit
beschäftigt, mit Assunta zu streiten, sogar aus 6500 km Entfernung? Zu viel
Wut. >Mama, hörst du mich? Ich bin nicht du!< (2019, 193)
Giulia hatte versucht, von Amerika aus erneut
Kontakt zur Mutter aufzunehmen, hat ihr ein Foto ihres Sohnes geschickt, eine
Einladung und Geld, damit sie sie in Amerika besuchen könne. Assunta Masca war
so gekränkt, dass sie die Briefe unbeantwortet ließ, sie nahm lediglich das
Geld heraus, um damit für ihr späteres Begräbnis zu sparen.
Im Laufe der Jahre musste die mittlerweile Identität
geplagte Amerikanerin erkennen, dass ihre Mutter einen harten Überlebenskampf
führen musste. Giulia begann zu verstehen, dass die Mutter keine böse Natur
war, sondern nur arm.
Assunta
hat getan, was sie konnte, das weiß Giulia jetzt. Es gibt keine Rechnungen zu
begleichen, es gibt nichts zu verzeihen. Alle tun wir unser Bestes. (514)
Einen schönen Satz hat Romagnolo geschrieben, den
ich unbedingt festhalten möchte, der allen anderen Familien Mut machen soll: Familie heißt, füreinander da sein.
Leider finden die meisten Zerwürfnisse ganz besonders in Familien statt, die häufig
bis zum Tod unversöhnt bleiben, wie ich dies aus meiner psychiatrischen
Berufspraxis von meinen Klient*innen heraus kenne und erfahren habe. Auch die Seniorenheime
sind voll von alten Menschen, bei denen der Kontakt von den Kindern aus
unterschiedlichsten Gründen abgebrochen wurde, und so vereinsamen die alten
Leute vor sich hin. Ebenso im Freundeskreis gibt es Fälle dieser Art.
Episode 2 – Libero Manfredis depressive Krise Giulias Mann sollte einberufen werden, der Zweite
Weltkrieg war ausgebrochen. Libero Manfredi bestand die medizinische
Untersuchung nicht, da er Analphabet war und wurde als imbezil eingestuft. Er
wurde dadurch ausgemustert und wieder zurückgeschickt. Er fiel in eine schwere
depressive Krise, lag apathisch im Bett, verlor jegliches Interesse am Leben.
Giulia ging das sehr nahe und meinte, dass niemand das Recht habe, einfach
stehen zu bleiben, „denn Gehen heißt Leben“. Gehen heißt Leben und das Beste
aus seiner Lage machen …
>Niemand
hat die Freiheit, einfach stehen zu bleiben, nicht wahr, Miss Liberty?<
(131)
Keine Wertschätzung vonseiten Amerika, das bekannt
ist als das Land der Freiheit und der unbegrenzten Möglichkeiten, wofür die
Freiheitsstatue steht, vor der Giulia ihren Gedanken nachgeht. Dass Manfredi
trotz der Bildungsarmut dennoch ein erfolgreicher Geschäftsmann wurde, galt in
Amerika nicht als nennenswerter Erfolg.
Episode 3 – Pietro Ferro im Krieg Pietro ist im Krieg und ist kriegsmüde und sehnte
sich nach seiner Frau Anita. Er möchte ihr einen Brief schreiben, und es fehlen
ihm aber die richtigen Worte. Es fällt ihm schwer, ihr zu schreiben, wie es ihm
wirklich geht, wie schrecklich dieser Krieg doch sei. Er möchte seine Frau
nicht beunruhigen. Im Graben liegt ein toter deutscher Soldat. Pietro findet
bei ihm einen Liebesbrief an dessen Frau. Er ist angetan von seinen Worten und
möchte am liebsten diesen Brief stehlen und seiner Frau schicken. Aber da stehen
auch Worte von Vaterlandsliebe, die Pietro am liebsten auslöschen würde, da er dieses
Gefühl selbst nicht kennen würde.
Diese Episode hat mich tief berührt, dass der
italienische Soldat betäubt vom Krieg einen Brief stehlen wollte, die Worte
stehlen, die der deutsche Soldat an seine Frau gerichtet hatte. Und die These
zur fehlenden Vaterlandsliebe, wo doch viele hier denken, dass die
Italiener*innen alle stolz auf ihr Land aufsehen, was aber in Wirklichkeit
nicht stimmt. Weiter unten habe ich geschrieben, warum die Italiener*innen
Identitätsprobleme haben. Nicht nur wegen der schwachen italienischen Regierung
seit eh und je …
Welche Szene hat mir gefallen?
Es gibt zwei Episoden angelehnt an Zitate …
Episode 1 – Giulias Schulerfolg – Die Anerkennung ihrer Familie
Am
letzten Schultag stehen sie alle beide draußen. Er nüchtern, rasiert, in
sauberem Hemd, sie im Sonntagskleid, mit glänzenden Stiefelchen und einem
Schildpattkamm im Haar. Es sind noch andere Eltern da, wegen der Zeugnisse. Sie
setzten sich zu dritt auf die Stufen, Giulia in der Mitte. Sie liest ihnen vor:
Drei, Zwei, viele Einsen, doch die beiden sahen sie zweifelnd an.
In
dem Augenblick tritt Primo Leone mit Anita an der Hand zu ihnen. Er will die
Noten sehen, wirft einen raschen Blick darauf, macht große Augen, um sie zu belustigen,
und drückt ihr zum Schluss die Hand, wie es unter den Großen Brauch ist:
>Meine Hochachtung, Signorina Masca. Sogar in Rechnen eine Eins!<
Die
Piazetta leert sich, auch der Herr Lehrer (…) geht davon, nickt ihrer Mutter zu
und zieht vor dem Vater den Hut. Als sie allein sind, holt Erminio Masca ein
größeres Päckchen aus der Tasche. >Zur Feier des Tages<, sagte er. >Du kannst doch
so gut rechnen, teil es gerecht auf.<
Auf
ihren Knien faltet Giulia das Päckchen auseinander und zählt im Kopf
siebenundzwanzig glasierte Haselnüsse. Dann sagt sie ganz leise, als wäre der Lehrer
noch dabei: > ja, ist teilbar<, und macht drei Häufchen von je neun. Sie
ist so aufgeregt, dass sie nicht einmal herausbringt: > Bitte sehr, nehmt
Euch.< Sie blickt auf das greifbare Ergebnis aus Zuckerglasur, mustert aus
dem Augenwinkel die gerade Linie des frisch gestutzten Schnurrbarts ihres
Vaters und die Handschuhe, die die Mutter aus der Kommodenschublade gefischt
hat, um ihre verunstalteten Finger zu verbergen: (Die Finger waren durch die
harte Arbeit in der Seidenraupenspinnerei entstellt, Anm. d. Verf.) Sie möchte
für immer so bleiben, in diesem Augenblick vollkommenen Glücks, während die
Menschen, in ihre Geschäfte und Gedanken vertieft, ahnungslos vorübergehen.
Doch dann hat Assunta einen Handschuh ausgezogen, Erminio Masca hat sich eine Haselnuss
genommen, und alles war zu Ende. (345)
Obwohl die darauffolgenden Sätze den Tod des Vaters ankündigen,
woran, ist im Kontext nicht festgelegt, fand ich diese Szene, den Schulerfolg
durch die Eltern mitgetragen zu haben, als eine zwar nur kurzlebige Glückseligkeit,
dennoch wunderschön. Ich habe noch lange daran gezehrt. Zu schön, sich
vorzustellen, wie sich die Eltern für die Tochter rausgeputzt haben. Und dass
der eigentlich alkoholisierte Vater doch einen sehr weichen Kern besaß, wie man
dies bei vielen männlichen Alkoholikern beobachten kann. Sie trinken aus purer
Verzweiflung durch schwierige Lebensumstände, mit denen sie nicht fertig werden.
(336)
Episode 2 – Der weinende Arzt und die Vergebung Doktor Costa muss im Beisein von Anita, die durch
die Todesfälle in ihrer Familie schon vorbelastet ist, Pietros älteren Bruder
Achille Ferro, der den italienischen Partisanen sich angeschlossen hatte und von
den Feinden erwischt und übelst zugerichtet wurde, eine Todesspritze setzen
lassen, um diesen von dem Leid zu erlösen, da er nicht mehr zu retten war. Der
Arzt konnte auch Anitas Sohn Nico nicht mehr retten, was ihm zu schaffen macht.
>Glauben
Sie mir? Sie müssen mir glauben, Anita< Schwarzhemd, Kniehosen. Die
Arroganz. Anita bringt keine Antwort heraus.
Der
Arzt schlug die Hände vors Gesicht. >Es tut mir leid, es tut mir leid, es
tut mir leid<, schluchzte er, und Anita begreift, dass dieses Weinen alles
enthält, was der Arzt nicht mit Worten ausdrücken kann: seine Jugend und die
von Nico, die Entscheidungen, der Zufall, das Schicksal.
Sie
tritt zu ihm, nimmt seinen Kopf zwischen die Hände, und er klammert sich an
ihre Rockschöße.
Seine
Schultern beben. Sie lässt ihn sich ausweinen, streicht über seine schütteren
Haare. Auch Nico wären sie ausgegangen, alle Ferros bekommen früh kahle
Schläfen. Sie denkt an die jungen Widerstandskämpfer, zu denen der Arzt nachts
hinaussteigt, um sie zu behandeln. Dutzende. Sie denkt an Gatto und an Hamlet.
Kleine Tränen der Erleichterung rollen über ihre Wangen. Ihr wird leicht ums
Herz, sie fühlt, wie der Hass, der sich in all den Jahren abgelagert hat, sich
auflöst, wie angetrocknete Seife und fortgespült wird. Ist das die Vergebung,
von der die Pfarrer sprechen? Dieses unvermutete Vermächtnis füreinander, diese
Verbindung zwischen dem, der vergibt, und dem, dem vergeben wird? (492)
Welche Figur war für mich Sympathieträgerin? Am Ende waren es Anita und Giulia, aber auch Giulias
Sohn Michael und Libero Manfredi. Auch Adelhaid fand ich sympathisch, die sich
als Frau für Politik interessierte. Sie sich in Männerkleidung begab, um für
das Land mitzukämpfen.
Welche Figur war mir antipathisch? Alfonso Risso, der hinterhältig war und mit einem
Fußtritt einen Hund der Leonis getötet hat.
Meine Identifikationsfigur Es hat lange gedauert, bis ich mich in eine der
Figuren habe spiegeln können. Ich sah mich anfangs in Anita, doch erst am Ende
war ich mir sicher, dass sie es ist, deren Namen ich hier festhalten möchte.
Anita Leone-Ferro.
Cover und Buchtitel Den Titel Bella
ciao fand ich unpassend. Besser finde ich den Originaltitel Destino –
Schicksal.
Bella ciao ist nichtsagend, auch wenn der Titel auf der Seite 509 in
die Nationalhymne gepackt wird, sodass ich im Internet mir die gesamte
Nationalhymne runtergeladen habe, und habe dort allerdings nirgends etwas von
„Bella ciao“ entnehmen können. Das Cover von der Büchergilde finde ich etwas zu
bunt, aber die Idee, beide Staaten, Italien und Amerika, auf den Kopf zu
stellen, soll die Gegensätze aufzeigen, finde ich künstlerisch gelungen, wenn
es aber auch viele Gemeinsamkeiten gibt, die man auch mal ruhig in den Fokus hätte
rücken können.
Das Cover von Diogenes finde ich für mich
ansprechender, wobei die Figur darauf sicher die Hauptfigur Giulia Masca
darstellen soll. Aber warum dunkelhaarig? Giulia hat blonde Haare und blaue
Augen. Überhaupt fand ich es schön, dass die Figuren im Buch bunt waren, es gab
auch Rothaarige. Figuren mit blauen
und grünen Augen, große und kleine Italiener*innen.
Warum dürfen Italiener*innen nicht blond … und hellhäutig sein? Warum halten ausländische
Verlage so an diese Stereotypen fest? Selbst meine Herkunftsfamilie, die nicht
aus dem Norden Italiens kommt, ist bunt gemischt. Viele Blondhaarige, viele mit
blauen und grünen Augen, nicht alle haben schwarze Augen bzw. schwarze Haare. Warum
darf Vielfalt im Süden nicht sein? Sowohl im Auftreten als auch von der Genetik
her werden sie immer als Exoten dargestellt. Ein Schwarz-Weiß-Bild, das ich in
meiner Familie nicht bestätigen kann. Hell ist der Norden Europas, dunkel der
Süden. Doch auch der Norden ist bunt und ist keineswegs nur hell. Es wird ein
Wunschbild kreiert, wie man sich wünscht, wie Menschen aus anderen Ländern
auszusehen haben. Und diese Bilder sind fest in den Köpfen der Leser*innen programmiert.
Man verbindet damit auch bestimmte Verhaltensweisen, wie z. B. Heißblütigkeit,
u. a. negative Attribute.
Verbrecher und Kriminelle werden zum Beispiel meist
dunkelhaarig dargestellt. Die Hellen werden häufig als sanft und sensibel beschrieben.
Ich bin froh, Romagnolo gelesen zu haben, denn in ihrem Roman gibt es auch
weinende, italienische Männer. Selbst in meiner Familie gibt es sehr sensible
Männer, die in belastenden Situationen durchaus Tränen vergießen können. Nicht
alle sind hart gesottene Machos. Aber will man solche Männer? Hier in
Deutschland werden sie als Weicheier beschimpft.
Woher mein kritischer Blick? Durch mein Hauptstudium
der Erziehungswissenschaften an der Goethe-Universität in Frankfurt, als ich
damals neben meinen anderen Nebenfächern auch das Fach der Migrationspädagogik
mitbelegt hatte, wurde uns Student*innen der Blick geschärft, Bilder in der
Literatur, auch durch Wort und Schrift gegenüber den Personenbeschreibungen
kritisch anzugehen. Selbst in Schulbüchern ist häufig versteckter Rassismus
verbreitet. Kinder werden frühzeitig geimpft, in dem sie Migrant*innen mit bestimmten Mustern im Wir und Ihr-Modus dargestellt bekommen, die zusätzlich ausgrenzende Wirkungen erzeugen sollen. Türken wurden in Schulbüchern häufig der
Berufsgruppe Müllabfuhr, Türkinnen waren Putzfrauen, Italiener waren
Pizzabäcker, etc. während Deutsche in akademische Berufe gepackt wurden. Dies
ist sicher auch ein Grund, weshalb sich keine italienischen Akademiker*innen in
Büchern zu Italien finden lassen, die von deutschen Autor*innen geschrieben werden.
Es ist schwer, sich mit diesen stereotypen Bildern im Kopf z. B. eine*n italienische Wissenschaftler*in etc. vorzustellen.
Zum Schreibkonzept Das Buch ist auf den 518 Seiten in drei Büchern mit
insgesamt neun Kapiteln gegliedert. In manchen Kapiteln findet man weitere
Überschriften, die thematisch aufgebaut sind. Die Erzählform hat
reflektierenden Effekt. Außerdem besitzt die Lektüre eine gut verständliche Sprache.
Manchmal allerdings bedient die Autorin auch Fäkalbegriffe, die wahrscheinlich
gewollt sind, um die Misere Italiens besser verdeutlichen zu können. Für Scheiße hätte man aber auch den Begriff
Kot einsetzen können. Hätte für mich denselben Effekt, klingt nur nobler. Aber diese
primitiven Begriffe sprengen keineswegs den Rahmen.
Auf der ersten Seite schenkt uns die Autorin zwei
wunderschöne einleitende Verse zu ihrem Roman.
Auch findet man zu Beginn jedes neuen Buches einen
Stammbaum der Familien Leone, Masca und Manfredi. Separat dazu Namen anderer
Figuren. Am Ende des Buches ist eine Anmerkung der Autorin abgedruckt, die beschreibt,
wie sie zu ihrem Erzählstoff gelangt ist.
Meine
Meinung Nach dem Ende des
Buches weiß ich noch nicht mit absoluter Sicherheit zu sagen, wie ich zu der
Autorin Raffaella Romagnolo stehen soll, die immerzu von Italien spricht, aber
die Grenzen bis nach Piemont gezogen sind. Es gibt noch nicht einmal die
Hauptstadt Rom, in der von dort aus seit der Staatsgründung von 1861 sämtliche
politische Fäden gesponnen wurden. Vor dieser Zeit war Italien in mehreren
Staaten gesplittet. Florenz hatte zum Beispiel eine eigene Festung, fremd war
jeder, der nicht dieser Bastion angehörte. Durch die gewaltigen Machtkämpfe aus
anderen europäischen Länder wie z. B. das Eindringen durch Österreich in den
Norden, der Süden wurde sogar von arabischen Ländern fremdbesetzt, haben sich
die vielen italienischen Kleinstaaten zusammengetan und gründeten ein großes
Staatsgebiet, um sich gegen die Fremdherrschaft oben wie unten besser schützen
zu können. Aber eine Liebe zwischen diesen Staaten konnte als ein geeintes
Italien nie wirklich erworben werden. Zu groß waren die Vorurteile, zu groß der
Ressentiment unter den vielen kleinen Staaten, die zu einem einzigen Volk
Italiens hätten zusammen wachsen sollen …
Wenn auf diesen
Buchseiten mal über eine Figur aus Süditalien geschrieben wird, dann eher auf
eine recht abfällige und rassistische Form durch die Romanfigur Giulia Masca.
Es herrschen hier dieselben rassistischen Vorurteile, wie man sie von anderen
Ländern zu Italien her kennt. Giulia befindet sich in Manhattan, als sie
folgenden Gedanken spinnt:
In der Wohnung im 1. Stock wohnen jetzt
acht kürzlich angekommene Kalabresen, vielleicht auch neun, Mrs. Giulia Masca
ist sich nicht sicher Sie vermehren sich rasch. Ungebildete Italiener,
Analphabeten mit zu vielen Kindern (…), (37).
Klagte sie doch über
die Bildungsarmut ihres eigenen Landes, auch ihre Mutter war Analphabetin, ihr
Mann Manfredi ist es, hackt sie nun auf die Süditaliener, ohne zu wissen, was
das tatsächlich für Leute sind. Das war oder ist sogar noch italienischer Alltag zwischen
Nord und Süd und dies hat Romagnolo in dieser einzigen Szene sehr gut darstellen können.
Auch Äußerlichkeiten verwenden Norditaliener*innen dieselben Stereotypen wie die Deutschen. Die Süditalien*innen werden alle als dunkelhäutig und schwarzhaarig abgebildet. Dabei sind sie durch das milde und heiße Klima eher sonnengebräunt.
Auf nur 518 Seiten ein
Familienepos über italienische Geschichte zu schreiben, finde ich für jemanden, der
sich mit dieser Materie nur wenig auskennt, eine Überfrachtung. Zu große
Zeitsprünge hin und her, während Menschen, die in dem Land groß geworden sind
und in der Schule italienische Geschichte gelehrt bekommen haben, es
sicher leichter haben, sich in dem Buch historisch zu orientieren. Mir hat in der
Erzählstruktur mitunter ein Zeitraffer gefehlt. Mitten im Text bekommt man
völlig unerwartet mit einer anderen Epoche zu tun und dann wieder mit anderen
Figuren aus den verschiedenen Stammbäumen, die aber alle miteinander verbunden waren.
Auf die
Weltwirtschaftskrise, die in den 1920er und 1930er-Jahren in Amerika
grassierte, so wie auch die Bankenkrisen, die Schuldendeflation … erwähnte die
Autorin kaum. Amerika ging es zu dieser Zeit existenziell auch sehr schlecht.
Viele Amerikaner*innen nagten ähnlich wie die Italiener*innen am Hungerstuch
...
Das Buch hat dennoch
mein Interesse geweckt, dass sich in mir eine innere Lust entwickelt hat,
weitere Bücher zur Geschichte Italiens zu lesen. Der italienische Faschismus
ist mir durch den deutschen Nationalsozialismus vertraut, aber nicht nur auf
Piemont bezogen. Ich habe dazu viele Fachbücher gelesen, aber keine
belletristischen Romane, die es in Italien zuhauf gibt, wie ich mir habe sagen
lassen. Leider werden zu wenige davon ins Deutsche übersetzt.
Doch im Nachhinein fand ich das
Buch sehr gut. Diese Kühle, die die Autorin in die Seelen ihrer Figuren hineingelegt
hat, konnte am Ende in Empathie und Menschlichkeit umgewandelt werden. Ich fand
das Ende daher richtig genial, das mich sehr tief bewegt hat.
Schützt Bildung vor Armut? In
vielen Ländern schon, leider nicht in Italien. In den 1990er Jahren sind viele
italienische Akademiker*innen ausgewandert, da sie im eigenen Land keine
Arbeitsplätze haben finden können. Die Ressourcen der jungen und gut ausgebildeten
Menschen hatte der Staat regelrecht verschwendet, die auch heute noch zu wenig für das eigene
Land eingesetzt werden.
Wie ist das Buch zu mir gekommen? Durch die Buchmesse von 2018. Es fand wieder das alljährliche
Bloggertreffen durch den Diogenes Verlag statt, das von der Pressereferentin S.
B. moderiert wurde. Hier wurden sämtliche Neuerscheinungen für das erste
Halbjahr 2019 vorgestellt. Mir war klar, dass ich durch mein Leseprojekt
italienische Autor*innen Literatur gesucht habe. Romagnolo kam mir hier sehr
recht, da ich mit meinem Projekt noch in den Startlöchern steckte. Entdeckt und
fertig gedruckt hatte ich es allerdings etwas später bei der Büchergilde bei
meinem Quartalseinkauf. Die Büchergilde bekam eine Lizenzausgabe durch die
Genehmigung des Diogenes Verlages, der zuerst die Autorin aufgespürt hatte.
Auch wenn in Amerika von den Medien häufig nur die Glitzerseiten gezeigt werden, gibt es auf Youtube kostenlos einen Spielfilm über die Armut in Amerika zu sehen. Der Film heißt Im Teufelskreis der Armut. Ich hatte ihn mir vor mehreren Jahren mehrmals angeschaut, noch bevor ich Romagnolo kannte.
Auch in diesem Film wird deutlich, wenn in einer Familie die Existenzgrundlage fehlt, dann geht es um das nackte Überleben, und man einfach nicht die Mittel hat, das Kind (weiter) zur Schule zu schicken. In diesem Film bettelt das Kind regelrecht darum, in die Schule gehen zu dürfen. Aber seht selbst.
Mein Fazit Ein Buch nicht nur
über Krieg und Armut, sondern auch über eine echte Freundschaft mit der Weisheit
behaftet, die alles vergibt und nichts vorwirft. Gehen heißt Leben und Leben
heißt, das Beste aus seinem Schicksal zu machen. Bella ciao.
Meine Bewertung
2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe
Schreibweise) 2 Punkte: Differenzierte Charaktere 2 Punkte: Authentizität der Geschichte, Spannung 2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt 2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus 1 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein
Elf von zwölf Punkten.
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Familie heißt, füreinander da sein.
Niemand hat die Freiheit, einfach stehen zu bleiben. Gehen heißt Leben. (Raffaella Romagnolo)
Der Mensch ist mehr
als nur die biologische Erbmasse. Er ist, was er
innerlich denkt und fühlt. (M. P.)
Die Herkunft eines
Menschen Die Wurzeltheorie
verdammt Menschen zu ewigen Ausländer*innen, nur, weil sie eine andere
Hautfarbe, eine andere Religion oder einen anderen Namen tragen. Die meisten
haben ihre Wurzeln dort geschlagen, wo sie geboren wurden und / oder dort, wo
sie ihr ganzes Leben zugebracht haben.
Es lebe die menschliche Vielfalt in
Deutschland und überall. (M. P.)