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Sonntag, 7. Oktober 2012

Valentin Senger / Kaiserhofstraße 12 (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g, Lektüre

Ich habe das Buch nun durch und wenn ich nicht wüsste, dass das Buch als eine Autobiografie vor mir liegen würde, so würde ich glauben, dass der Inhalt ein wenig realitätsfern geschrieben sei.

Wie die Familie Senger den Nationalsozialismus in Frankfurt Main überlebte, ohne irgendwo untergetaucht zu sein, grenzt für mich an ein Wunder, auch wenn Autor und der Verfasser des Nachworts eine andere Auffassung von Wunder haben.

Valentin Senger ist gebürtigter Frankfurter, seine Eltern waren aus Russland geflohen, bevor die Kinder zur Welt kamen. Valentin Senger ist ein falscher Name. Der Vater hieß in Russland Moissee Rabisanowitsch und flüchtete 1905 als Revolutionär und wegen politischer Unruhen aus Russland. Seine Mutter hieß ursprünglich Olga Sudakowitsch. Nach der Flucht 1905 begaben sie sich in die Illegalität, reisten in die Schweiz, ließen sich dort falsche Ausweispapiere ausstellen und nur durch ein Zufall wurde der falsche Name Senger mit  e geschrieben, statt a mit Umlaut. Moissee kannte den Buchstaben ä nicht. Mit den falschen Ausweispapieren emigrierten sie nach Deutschland und wurden dort als staatenlose Ausländer registriert. Senger mit einem ä geschrieben, so wäre es leichter gewesen, die falsche Identität im Nationalsozialismus aufzuspüren. Auch hier hatten sie durch puren Zufall einfach nur Glück.

Die Familie wohnte in einem Mehrfamilienhaus in der Kaiserhofstraße Frankfurts. Man hat es diesmal nicht mit gutbetuchten Juden zu tun. In dem Mietshaus wohnten Familien aus der einfachen Gesellschaftsschicht. Auch wenn Moissee Rabisanowitsch in Russland an der Universität eingeschrieben war, so brach er sein Studium ab, um sich politisch zu betätigen.

In Frankfurt Main hatte mehr die Mutter von Valentin die Fäden in der Hand. Als Hitler Reichskanzler wurde, achtete die Mutter streng darauf, in der Gesellschaft nicht aufzufallen und so erzog sie ihre Kinder zu Gehorsam, zum Duckmäusertum, zu Schwindeleien. Die Kinder waren gefangen in einem Netz voller Lügen und es kostete enorme Kraft, diese Lügen aufrechtzuerhalten. Auch wenn Valentin seiner Mutter diese schlechten Tugenden vorwarf, so hatten gerade diese Lügen sie bis zum Ende des Krieges durchgebracht. Leider erlebte die Mutter als Herzkranke das Ende des Krieges nicht mehr. Aber nur an diese Tugenden hat das Überleben des Nationalsozialismus alleine nicht gelegen. Sie hatten wiederholt auch wahnsinnig Glück gehabt.

Im Stillen warf Valentin aber der Mutter vor:
"Deine Absichten mögen gut gewesen sein, aber du konntest nicht voraussehen, was Du damit angerichtet hast, diese seelischen  Verwachsungen, die aus einem Jahrzehntelang Selbstverleugnen entstehen mussten, und die zu überwinden mich noch einmal Jahrzehnte kostete, bis ich endlich ohne Zittern in der Stimme sagen konnte:"Ich bin ich, der Sohn von Moissee Rabinsanowitsch aus Nikolajew und Olga Moisejewna Sudakowitsch aus Otschakow, ein Ostjude, in Frankfurt geboren und aufgewachsen, und durch tausend Zufälle den Häschern des Hitlerfaschismus entgangen."
Valentin wünschte sich mehr Mut, und verachtete diese Feigheit. Auch den Juden warf er Feigheit vor, die ohne Widerstand in den Tod sich haben treiben lassen. Sein Motto: Lieber kämpfend  als duckmäuserisch sterben. Nun haben aber sie überlebt, Valentin, der Vater und die Schwester. Der Bruder fiel im Krieg.

In Russland werden die Juden nicht als Russen bezeichnet, sondern werden noch heute behandelt als gehörten sie einer anderen Nationalität an. 

Als Hitler an die Macht kam, waren sich viele Menschen sicher, dass er sich an der Regierungsspitze nicht lange halten würde. Die Mutter von Valentin glaubte an ein "Totgeborenes Kind". 

In der Schule wurde Rassenkunde gelehrt und üble, erfundene Geschichten über Juden verbreitet. (Nun, das ist ja nichts Neues, dennoch erstaunen mich solche Berichte immer wieder auf´´s Neue):
Und dann die Geschichte von dem Juden, der die Schlechtigkeit seiner Rasse und seiner Religion nicht mehr mitmachen wollte, sich mit dem Verstand dagegen auflehnte und eines Tages zum Christentum konvertierter. Aber das Blut! Judentum ist keine Sache des Glaubens, des Verstehens oder des Gefühls. Die ganze Verderbtheit der jüdischen Rasse ist im Blut enthalten. Kein Jude kann ihr entfliehen. Und so ist klar, dass der zum Christentum Übergetretene kein besserer Mensch werden konnte. Denn da war das Blut. Er wurde rückfällig und trat dann auch folgerichtig wieder aus der christlichen Kirche aus. (…) Jud bleibt Jud, da hilft kein Weihwasser und kein Kreuze schlagen."
Ich denke dabei an Edith Stein... .

In der Schule bekamen die Schüler die Hausaufgabe auf, einen Stammbaum zu zeichnen. Eine schwere Hürde, aber Valentins Mutter war mit einer großen Vorstellungskraft gesegnet und brachte einen Stammbaum zustande, den der Bio- Lehrer in der Schule ausgiebigst studierte und er ihn überzeugen konnte. Die Dummheit der Nazis an folgender Textstelle. Valentin berichtet aus einer Biostunde:
Als der Biolehrer einige Wochen später mit uns die verschiedenen arischen Rassen besprach, nahm er auch an einigen Schülern Schädelmessungen vor. Dazu benutzte er ein seltsames Instrument, das wie ein großer, an den Enden stark gekrümmter Zirkel aussah, mit einem verstellbaren Zapfen in der Mitte. Außerdem hatte er noch einige Schautafeln und Tabellen mitgebracht.
Mich holte er als ersten vor die Klasse. An mir wollte er seine Fähigkeiten in der Schädelbestimmung demonstrieren. Er drückte seinen krummen Zirkel an meinen Kopf, mal von vorne nach hinten, mal von links nach rechts, stellte jedes Mal den senkrechten Stift nach, schrieb Zahlen auf, und die Klasse folgte aufmerksam dem ungewöhnlichen Ton. Hierauf begann er zu rechnen und in den Tabellen nachzuschlagen, die er, eine nach der anderen, vom Katheder hoch nahm und dicht an seine dicken Brillengläser hielt. Schließlich drehte er sich zur Klasse und verkündete triumphierend:" Senger-dinarischer Typ mit ostichem Einschlag, eine kerngesunde arische Rasse." Der Biolehrer war mit sich und dem Ergebnis seiner ersten Schädelmessung vollauf zufrieden. Kein Wunder, er hatte Mamas Stammbaum gut studiert. 
Noch heute  gibt es Menschen, die glauben zu wissen, was äußerlich als typisch deutsch entspricht .
Deutsch blond, Südländer schwarz, dazwischen gibt es nichts, obwohl es auch im Süden viele Blonde, und Andersfarbige gibt und in Deutschland viele dunkle... Obwohl Hitlers Wissenschaft auf arisches Blut sich keineswegs bewahrheiten konnte, haben viele Menschen hier in Deutschland nicht wirklich etwas daraus gelernt. Die Menschen interessieren sich nicht wirklich, was richtig und falsch ist, sondern gestalten in ihrer Vorstellung die Menschen so, wie sie sie haben möchten... und machen sie passend, pressen die Menschen in ihre Schablonen, ähnlich wie der Bio-Lehrer.

Diese Dummheit wiederholt sich ein paar Seiten später im Liebeskontakt zwischen Valentin und einer Frau. Valentin versuchte herauszufinden, welche politische Ambitionen diese Frau pflegte und wie sie zu den Juden stand:
"Ob es arme oder reiche Juden sind, alte oder junge, Mann oder Frau, sie haben alle den gleichen intensiven unangenehmen Geruch, eben den typisch jüdischen Geruch. (…) Wenn Du eine so empfindliche Nase hast wie ich, kannst du einen Juden unter hundert Christen herausfinden."
Nun hat sie mit einem Juden im Bett gelegen und ähnlich wie der Bio - Lehrer keineswegs seine Religiosität gerochen... .  Es ist so wichtig, solche Zeitzeugen zu haben, die uns zeigen, wie verwerflich Theorien sein können, die sich auf Menschen beziehen.

Valentin hatte einen um fünf Jahre jüngeren Bruder, und beide wurden im Säuglingsalter beschnitten. Im Nationalsozialismus wurden Arztbesuche tunlichst gemieden... . Valentin erkrankte einmal so schwer, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als doch einen Arzt aufzusuchen. Auf der Liege zog der Arzt ihm die Hose runter und war erstaunt über den beschnittenen Penis. Er stellte Valentin zwar zur Rede und die Ausrede, die die Mutter sich hat einfallen lassen, wirkte hier nicht. Dennoch lieferte der Arzt Valentin nicht aus... . Bei der Einmusterung gelangten beide Brüder an einem Arzt, der diese beschnittenen Jungen nicht der Gestapo ausgeliefert hatte und tat so, als wären sie wie die anderen jungen Männer, eben unbeschnitten. Das waren wieder zwei Wunder... .
Moissee Rabiwanowitsch hatte Kontakt zu russischen Frauen, die in Deutschland auf Zeit arbeiteten. Er wandte sich wohlwollend, aber versteckt diesen Frauen zu. Er wurde denunziert. Die Gestapo nahm ihn fest, sperrte ihn ein, aber er wurde nach Wochen wieder entlassen. Ein erneutes Wunder. 

Der Vater sprach deutsch mit einem jüdischen Akzent. Aber da die meisten Deutschen den jüdischen Akzent nicht kannten, fiel er nicht weiter auf. Wenn er auf die Sprache aufmerksam gemacht wurde, so bezeichnete er sich, wie es im Stammbaum angegeben wurde, als ein Wolgadeutscher. Ein weiteres Wunder, dass man ihm glaubte.
Den erfundenen Stammbaum, auch ein Wunder... . Für mich viele Wunder, doch für Peter Härtling, der das Nachwort schrieb:
In diesem Buch erzählt ein Davongekommener von einem Wunder, ohne sich zu wundern. Er weiß nämlich, dass Wunder von Menschen gemacht werden. Und dass sie - was sie unfassbar werden lässt - mit dem Zufall verbündet sind. (…) Sicher haben die klugen Vertuschungen Mama Senger für alle Wunder gesorgt, nicht zuletzt die durch Pässe verbürgte Staatenlosigkeit und das fehlende lebensgefährliche J darin.
Fazit: Ich fand das Buch interessant zu lesen, hatte ich bisher noch nicht gehabt, dass Juden den Nationalsozialismus überlebten, ohne ins Ausland emigriert zu sein, und ohne in Deutschland unterzutauchen. Nein, sie lebten als Juden unter der deutschen Bevölkerung, viele davon waren HitleranhängerInnen. Mit einer Tarnung, die nie aufgeflogen ist, trotz wiederholter und mehrfacher Fehlverhalten von seiten der Familienmitglieder.

Wäre das Buch eine Fiktion gewesen, dann hätte ich es in die Ecke geschleudert, weil ich an so vielen guten Ausgängen aus dieser schwierigen Zeit nicht geglaubt hätte. Ich bin froh, eines Besseren belehrt worden zu sein. Es ist doch gut zu wissen, dass es auch solche Realitäten gibt, Menschen, die andere Menschen schützen.

In dem Buch sind viele Familienfotos hinzugefügt, auch das Mietshaus aus der Kaiserhofstraße wurde nachgezeichnet, da es Mitte der 1970er Jahre abgerissen wurde und auf der freigewordenen Fläche ein Parkhaus gebaut wurde. Ebenso befinden sich auch Fotos von Valentin Senger im Seniorenalter. Übrigens, der Name Valentin Senger wurde bis zu seinem Tod beibehalten.


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„Die rechte Vernunft liegt im Herzen“ (Theodor Fontane)

Gelesene Bücher 2012: 71
Gelesene Bücher 2011: 86



Donnerstag, 4. Oktober 2012

Valentin Senger / Kaiserhofstraße 12




Klappentext
 Es sind die dreißiger Jahre: In der Kaiserhofstraße in Frankfurt am Main leben Schauspieler, Transvestiten, Freudenmädchen, Burschenschaftler – und die Familie Senger. Als Kommunisten und Juden mussten sie aus dem zaristischen Russland fliehen und haben hier ein neues Zuhause gefunden – bis Adolf Hitler 1933 die Macht ergreift. Valentin Sengers Mutter Olga erkennt früh den Ernst der Lage: Mit gefälschten Papieren verschleiert sie die Spuren ihrer Herkunft ...

Autorenportrait
Valentin Senger, geboren 1918 in Frankfurt am Main, arbeitete nach einer Lehre zum Technischen Zeichner als Konstrukteur. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde er Journalist und arbeitete zunächst für die Sozialistische Volkszeitung, später für den Hessischen Rundfunk. Valentin Senger starb 1997 in Frankfurt am Main.

Den Autor kenne ich nicht. Das Buch habe ich gebraucht von meiner Nachbarin geschenkt bekommen, da sie keine Bücher hordet, und schon keine Taschenbücher.
Ich habe es gerne entgegengenommen und freue mich auf das Lesen.