Mittwoch, 22. März 2017

Peter Longerich / Wannseekonferenz (1)

Der Weg zur >> Endlösung <<

75. Jahrestag der Wannseekonferenz am 20. Januar 2017


Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Das Buch hat mich so ziemlich betroffen gestimmt. Nicht, weil ich etwas Neues gelesen und erfahren habe, nein, weil die politische Lage mich hier ohnmächtig stimmt. Auch ist sie in meinen Augen total absurd. Es fällt mir schwer, daran zu glauben, dass Menschen anderen Menschen so etwas Bestialisches antun können … Wenn ich mir vorstelle, wie diese Männer sich am 20.01.1942 in einer Luxusvilla über eine schnelle Endlösung beraten haben; ich stelle mir dabei Kinder vor, Säuglinge, selbst davor machten sie keinen Halt. Ich werde nicht viel zu dem Buch schreiben, weil es mir sehr nahegeht. Ich stelle mir vor, wie Mütter in der Gaskammer ihre Kinder festgehalten haben, um ihnen die Angst zu nehmen. Wann haben diese Mütter von ihren Kindern losgelassen, als sie selber an dem Erstickungsprozess beteiligt waren? Schwangere Frauen in der Gaskammer? Männer, die von ihren Familien getrennt wurden. Es gibt keine Gräber von diesen Opfern ... 

Interessant fand ich, dass es nicht irgendwelche Männer waren; es waren größtenteils Männer mit einer akademischen Ausbildung. Richtig gescheite Leute, die ihre Intelligenz nutzten, um jüdische Menschen auszurotten.
15 Männer, darunter zehn mit einem abgeschlossenen Hochschulstudium, unter ihnen wiederum neun Juristen, von den acht einen Doktortitel führten, diskutierten diese Fragen, so ist dem Protokoll zu entnehmen, unter angenehm äußeren Umständen, in einer geradezu idyllischen Umgebung, in engagierter, sachlicher und sachkundiger Form; sie vertraten in Detailfragen durchaus unterschiedliche Standpunkte, ohne dass nur einer das Gesamtprojekt, den Mord an 11 Millionen Juden, infrage stellte. (2016, 8)

Ich versuchte mir so eine Konferenz vorzustellen, mich in diese Männer hineinzudenken. Was macht die Menschen zu dem, was sie sind? Was sind das für Männer, deren Gespräche permanent mit Mordgedanken gefüllt sind? Ein zu planender Massenmord eingeleitet mit verschiedenen Methoden, durch Hunger, Erschöpfung, Krankheit, Erschießung und am Ende durch Vergasung. Es gab in dem Buch noch Textstellen, wo diese Nazis bei der Vergasung unter den Duschen von außen zugeschaut haben, wie diese Menschen an dem Gas erstickt sind.
Auf Heydrich wurde später ein Attentat verübt, der kurze Zeit darauf an den Folgen starb. Kam dieses Attentat zu spät? Es gab genug andere Vertreter, die diese Vernichtungspläne weiter umgesetzt haben.
Die Wannseekonferenz leitete damit eine Weichenstellung ein, in deren Verlauf das Wann, das Wie und das Wo der >>Endlösung<< neu bestimmt wurde. Die Vernichtung der europäischen Juden wurde nun zu einem Projekt, das nicht mehr in großen Teilen nach Kriegsende, sondern vollständig bereits während des Krieges durchgeführt werden sollte; die >>Endlösung<< der europäischen >>Judenfrage<< sollte nicht mehr in den besetzten sowjetischen Gebieten stattfinden, der Schwerpunkt wurde viel mehr in das besetzte Polen verlegt; (129f)

Ich ahne, was mit Deutschland und mit dem Rest Europa passiert wäre, hätte Hitler seinen Krieg gewonnen. Nur aussprechen wage ich es nicht.

Mein Fazit zu dem Buch?

Nach dem Lesen und während des Lesens, wie ich oben schon geschrieben habe, konnte ich nicht aufhören, mich in diese Männer hineinzuversetzen. Wenn ich mir vorstelle, tagtäglich mit mörderischen Gedanken beschäftigt zu sein, und das noch über viele Jahre, so frage ich mich, wie eine menschliche Seele nur in der Lage sein kann, solche Energien in sich auszuhalten, und diese nach außen hin zu produzieren? Welche seelische Last tut man sich selbst damit an? 

Dabei sind in dieser Mordmaschinerie nicht nur sechs Millionen Juden umgekommen, sondern auch andere Menschen, die nicht in diesem Nazi-Regime gepasst haben. 

Demnach, auch wenn es belastend ist, wäre das Buch unbedingt zu empfehlen. Der Autor hat seinen Stoff gut verständlich einbringen können. Es geht nicht unbedingt darum, etwas Neues zu erfahren. Es geht um das Erinnern, damit eine belastende Geschichte nicht wiederholt wird. Diese Wannseekonferenz war mir von der Thematik her so noch gar nicht bewusst, welch einem Prozess sich die Nazis ausgesetzt haben, um diese Orgie der Gewalt, die mit dem Tod enden sollte, an Menschen anzuwenden.
Zusätzlich gut fand ich, dass der Autor seine Thematik nicht zu sehr aufgebauscht hat. 

Zehn von zehn Punkten.

Weitere Informationen zu dem Buch

Broschiert: 224 Seiten
Verlag: Pantheon Verlag; Auflage: 3 (14. November 2016)
Sprache: Deutsch, 14,99 €
ISBN-10: 3570553442

Ich möchte mich recht herzlich beim Verlag Pantheon für das zur Verfügung gestellte Exemplar bedanken. 

Und hier geht es auf die Verlagsseite von Pantheon.

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LIEBE FÜR ALLE
HASS FÜR KEINEN
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Gelesene Bücher 2017: 12
Gelesene Bücher 2016: 72
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Gelesene Bücher 2011: 86


Montag, 20. März 2017

Peter Longerich / Wannseekonferenz

Der Weg zur >> Endlösung <<


75. Jahrestag der Wannseekonferenz am 20. Januar 2017



Klappentext
Am 20. Januar 1942 kamen fünfzehn hochrangige Vertreter des NS-Staates auf Einladung von Reinhard Heydrich in einer luxuriösen Villa am Wannsee zusammen, um über die »Endlösung« der »Judenfrage« zu beraten: Man entschied, so dokumentiert es das Protokoll, insgesamt elf Millionen Menschen zu deportieren, sie mörderischer Zwangsarbeit auszusetzen und die Überlebenden und Nichtarbeitsfähigen auf andere Weise ums Leben zu bringen.
Peter Longerich, einer der angesehensten Historiker der NS-Geschichte, zeigt, wie die Führungsinstanz des »Dritten Reiches« aus einer vagen Absicht zur Vernichtung der Juden ein konkretes Mordprogramm entwickelte und welch hohe Bedeutung der Wannseekonferenz innerhalb des Holocaust zukommt.

Autorenporträt
Peter Longerich, geboren 1955, Professor für moderne Geschichte am Royal Holloway College der Universität London und Gründer des dortigen Holocaust Research Centre, ist seit 2013 an der Universität der Bundeswehr in München tätig. Der international renommierte Experte für die Geschichte des Nationalsozialismus veröffentlichte zahlreiche Dokumentationen und Gesamtdarstellungen, seine Bücher über die »Politik der Vernichtung« (1998) und ihre Resonanz in der deutschen Bevölkerung, »Davon haben wir nichts gewusst!« (2006), sind Standardwerke. Seine zuletzt bei Siedler erschienenen Biographien über »Heinrich Himmler« (2008), »Joseph Goebbels« (2010) und »Hitler« (2015) fanden weltweit Beachtung.
Das Buch ist sehr spannend. Ich bin damit schon fast durch. Sehr interessant geschrieben. Und trotzdem, mir kommt diese Zeit absurd vor. Ich kann nicht glauben, dass so viele intelligente Menschen, sie waren fast alle Akademiker, ihre Taten in kriminalistische Energien verlagert haben.


Weitere Informationen zu dem Buch

Broschiert: 224 Seiten
Verlag: Pantheon Verlag; Auflage: 3 (14. November 2016)
Sprache: Deutsch, 14,99 €
ISBN-10: 3570553442

Und hier geht es auf die Verlagsseite von Pantheon.



Sonntag, 19. März 2017

Jonas Karlsson / Das Zimmer (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Das Buch hat mich richtig gepackt. Woran hat das gelegen? Die Thematik besitzt schließlich keine kriminalistische Kulisse, sondern sie beschreibt ausschließlich die banale Welt eines Arbeitsalltags in einem Großraumbüro. Was ist daran so spannend? Der Autor hat es gewusst, seine Thematik so anzupacken, dass sie mich als Leserin nicht mehr losgelassen hat. Ein wenig surreal der Hintergrund seiner Geschichte.

Das Zimmer ist nämlich für mich ein surreales Motiv. Erst dachte ich, Björn, der Protagonist und Icherzähler, leidet an einer Zwangs- und Wahnvorstellung, an einer Schizophrenie, aber zum Ende hin konnte ich mich doch nicht für eine psychische Störung entscheiden.

Auf den ersten Seiten entwickelte ich ein Geschlechterproblem: Ich dachte erst, der Protagonist sei eine Frau. Habe dabei unbewusst den Klappentext und das Bild auf dem Cover ignoriert. Viele Episoden kannte ich von mir selbst. Ich würde also nicht unbedingt sagen, dass der exzessive Ehrgeiz und damit verbunden das enorme Leistungsdenken im Berufsleben eher eine männliche Domäne ist, denn wer ist das nicht heutzutage, ehrgeizig und leistungsorientiert im Beruf? Als die Geschichte aber immer abstrusere Formen annahm, konnte ich mich von dieser Figur wieder distanzieren, deren Namen Björn auf den folgenden Seiten mittlerweile gefallen war.

Zur Erinnerung gebe ich erneut den Klappentext rein:
Von unausstehlichen Kollegen umgeben, in ein Großraumbüro gepresst, kann Björn sein Glück kaum fassen, als er eines Tages ein kleines, geheimes Zimmer entdeckt. Ein Büro nur für sich, auf demselben Stockwerk, im Flur gleich neben der Tonne für das Altpapier und dem Aufzug. Hier drinnen sind das Chaos und die Enge der Bürowabenwelt vergessen, Björn hat plötzlich Spaß an seiner Arbeit. Alles wäre gut, gäbe es da seine Kollegen nicht. Die treibt Björns bizarres Verhalten fast zur Verzweiflung. Und zu allem Übel tun sie auch noch so, als existiere dieses Zimmer überhaupt nicht.
Nun erwiesen sich mir Björns KollegInnen nicht wirklich als unausstehlich, wie dies aus dem Klappentext hervorgeht. Ein dermaßen unkollegialer Typ wie Björn einer ist, der muss eben so behandelt werden, wie seine KollegInnen ihn behandelt haben. Unausstehlich war mir demnach eher Björn selbst, der menschliche Schwächen bei anderen definitiv nicht dulden konnte, und während er sich permanent aufwertete, wertete er andere ab … Björn möchte sich hocharbeiten, und sein Ziel ist, es von seiner Position bis in die Chefetage zu schaffen.

Björn hatte noch nicht lange die neue Dienststelle angetreten, als er schon nach ein paar Tagen seinen Kollegen Hakan zur Rede gestellt hatte. Hakan hatte seinen Schreibtisch gegenüber von Björn. Er wirkte mit seinen Akten dermaßen unsortiert, sodass viele Arbeitspapiere auf Björns Schreibtisch landeten. Doch auch Hakans äußere Erscheinung widerte Björn an. Nach dem Gespräch, als beide wieder an ihren Schreibtischen zurückgekehrt waren, kommen Björn über Hakan folgende Gedanken:
Wahrscheinlich war er diese Art deutlicher und effektiver Ermahnungen nicht gewöhnt. Höchste Zeit, dass du dich daran gewöhnst, dachte ich. Gut möglich, dass ich eines Tages dein Chef sein werde. (31)  
Björn wird immer auffälliger. Er zieht sich, wenn er sich von der Arbeit ein wenig ausruhen möchte, in dieses ominöse Zimmer zurück. Das stößt bei seinen KollegInnen auf, es kommt zwischen ihnen und Björn zu einem Eklat, sodass ein Gespräch zwischen ihm, seinen KollegInnen und dem Chef stattfindet. Björn äußert seinen Ärger:
Zunächst einmal ist mir aufgefallen, dass einige einen unnötig scharfen Ton anschlagen. Man ist mir mit einer recht unfreundlichen Haltung begegnet und hat sich nicht sonderlich darum bemüht, dass ich mich hier wohlfühle, was vermutlich daran liegt, dass ihr euch über mich ärgert. Das ist nicht weiter verwunderlich, kreative Menschen sind schon immer auf Widerstand gestoßen. Es ist ganz natürlich, dass einfach gestrickte Personen Angst vor Sachkenntnis haben. (70)

Die KollegInnen beschweren sich, dass Björn merkwürdige Dinge an der Wand tun würde, und geistig total abwesend wäre.

Das Gespräch gerät aus den Fugen. Die Rollen zwischen Björn und seinem Chef vermischen sich. Es ist Björn, der sich erlaubt, den KollegInnen Anweisungen zu geben, um das Gespräch zu beenden:
>>Lasst euch das eine Lehre sein<<, sagte ich in einem etwas milderen Ton. >>Was haltet ihr davon, wenn wir nun zu unseren jeweiligen Arbeitsaufgaben zurückkehren und diesen für euch alle so ausgesprochen peinlichen Zwischenfall nie mehr erwähnen. Wenn jeder Einzelne von euch bereit ist, ab heute offen und ehrlich zu sein, wenn ihr nie mehr versucht, mir derartige Streiche zu spielen, um mich aus dem Konzept zu bringen, bin ich bereit, einen Schlussstrich unter die Angelegenheit zu ziehen. Einzig und alleine, weil mir vollkommen bewusst ist, dass Intelligenz und Ausstrahlung allen Mittelmäßigen schon immer ein Dorn im Auge gewesen sind. Einzig und allein deshalb bin ich bereit, euch zu verzeihen. Kleine Menschen können nicht immer etwas dafür, dass sie gelegentlich der Versuchung erliegen, umzustürzen und den Leuten über ihnen zu schaden<<. (72) 

Die KollegInnen ziehen sich wieder an ihre Plätze zurück. Das Gespräch wird allerdings zwischen Björn und seinem Chef fortgesetzt. Das Gespräch endet damit, dass der Chef Björn zu einem Psychiater schickt…

Da das Buch gerade mal 172 Seiten hat, möchte ich nicht mehr verraten.


Mein Fazit zu dem Buch?

Eine recht authentische Geschichte; Erfahrungen, die sicher jeder Berufstätige aus seinem Arbeitsalltag kennen wird. Solch eine Figur, wie Björn sie ist, gönnt man keinen Chef-Titel. Und hier, in dieser Geschichte, habe ich schon ein wenig gezittert, Björn könnte neben seiner Verrücktheit und neben seiner Spießigkeit seinen Aufstieg zum Vorgesetzten schaffen. Björn ist allerdings nur eine Figur, die auch hätte eine Frau sein können. In dieser Form wäre sie genauso unausstehlich ... 

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus

Zehn von zehn Punkten.


 Weitere Informationen zu dem Buch

·         Gebundene Ausgabe: 176 Seiten
·         Verlag: Luchterhand Literaturverlag (11. April 2016)
·         17,99 €
·         ISBN-10: 3630874606

Ich möchte mich recht herzlich für das zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar beim Verlag Luchterhand bedanken. 

Und hier geht es auf die Verlagsseite von Luchterhand
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Liebe für alle.
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Gelesene Bücher 2017: 11
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Gelesene Bücher 2012: 94
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Freitag, 17. März 2017

Jonas Karlsson / Das Zimmer


Klappentext
Der moderne Mensch im Hamsterrad und seine Suche nach Glück. 
Von unausstehlichen Kollegen umgeben, in ein Großraumbüro gepresst, kann Björn sein Glück kaum fassen, als er eines Tages ein kleines, geheimes Zimmer entdeckt.Ein Büro nur für sich, auf demselben Stockwerk, im Flur gleich neben der Tonne für das Altpapier und dem Aufzug. Hier drinnen sind das Chaos und die Enge der Bürowabenwelt vergessen, Björn hat plötzlich Spaß an seiner Arbeit. Alles wäre gut, gäbe es da seine Kollegen nicht. Die treibt Björns bizarres Verhalten fast zur Verzweiflung. Und zu allem Übel tun sie auch noch so, als existiere dieses Zimmer überhaupt nicht.

Autorenporträt
Jonas Karlsson, 1971 in Södertälje in der Nähe von Stockholm geboren, ist eine der vielversprechendsten literarischen Stimmen Schwedens. Die New York Times lobte »Das Zimmer« als »meisterhaft«, die Financial Times nannte es »brillant«. Das Buch brachte Karlsson den internationalen Durchbruch. Der 45-Jährige zählt zu den angesehensten Schauspielern seines Landes und wurde bereits zweimal mit dem schwedischen Filmpreis ausgezeichnet. Karlsson hat bislang drei Kurzgeschichtensammlungen, zwei Romane und ein Theaterstück veröffentlicht.

Meine ersten Leseerfahrungen:

Das Buch klingt recht interessant. Es liest sich gut und flüssig und man 
kann sich gut in die Lage des Protagonisten versetzen.


Weitere Informationen zu dem Buch

·         Gebundene Ausgabe: 176 Seiten
·         Verlag: Luchterhand Literaturverlag (11. April 2016)
·         17,99 €
·         ISBN-10: 3630874606


Mittwoch, 15. März 2017

Astrid Lindgren / Die Menschheit hat den Verstand verloren (1)


Tagebücher von 1939-1945

Lesen mit Anne


Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Das Buch haben Anne und ich schon vor Tagen ausgelesen, wir sind nur noch nicht dazu gekommen, eine Rezension zu schreiben.

Mit Anne habe ich aber schon telefoniert. Es hat uns beiden gut gefallen und wir haben uns auch über die Rezensionen ausgetauscht, wer was über das Buch schreiben möchte. Anne schreibt auch etwas Biografisches von Astrid Lindgren, über dies im Vorwort einiges zu entnehmen gibt.

Ich dagegen habe die Absicht, viele Zitate herauszuschreiben. Was den Nationalsozialismus betrifft, wann der Zweite Weltkrieg etc. ausgebrochen ist, das weiß jeder und muss nicht nochmals hier erwähnt werden. Mir war die Betroffenheit von Astrid Lindgren ganz wichtig, wie sie diese in Sprache umgesetzt hat. Das hat mich so tief berührt, dass ich einfach gezwungen bin, meinen Fokus auf diese Zitate zu lenken.

Wir werden, wenn wir beide unsere Rezensionen zu diesem Buch geschrieben haben, diese noch miteinander verlinken.

Mit ihrem Tagebuch schreibt Astrid Lindgren so, wie ich sie liebe. Kritisch, politisch, differenziert, menschlich.

Ihre Tagebuchaufzeichnungen sind zudem mit vielen ausgeschnittenen Zeitungsartikeln versehen.

Schweden verhielt sich im Zweiten Weltkrieg zusammen mit anderen europäischen Ländern neutral. Astrid Lindgren nagten Gewissensbisse, weil ihr Land an dem Krieg nicht beteiligt war.
Ich habe mir allerdings als Leserin nicht die Frage gestellt, ob es feige war, dass Schweden an dem Krieg nicht beteiligt war. Nein, ich fand es gut, dass wenigstens ein paar Länder von dem Krieg und den Folgen verschont geblieben sind.

Durch die Neutralität hatte Schweden jede Menge  Ressourcen, und so konnte es vor allem dem kleinen Finnland und Norwegen mit materiellen Gütern unter die Arme greifen. Auch hat die schwedische Bevölkerung schwedische und norwegische Kriegskinder bei sich aufgenommen, und für sie gesorgt. Später, zum Ende des Krieges hin, überwindet Astrid Lindgren ihre Selbstzweifel, und sieht das Gute an der Neutralität:
Denn Schweden wurde außerhalb des Krieges gebraucht. Wenn man zurückschaut, haben wir durchaus so einiges erreicht, natürlich nicht, weswegen wir gerade vor Stolz platzen könnten, aber worüber man sich doch freuen kann. Wir haben Finnland einmalige materielle Hilfe gegeben. Und Norwegen vielleicht in fast gleich großem Umfang. Wir haben - was soll ich sagen-100.000 norwegischen und dänischen Flüchtlingen, vielleicht ist die Zahl etwas zu hoch, ich weiß nicht, Asyl gewährt. Wir haben sie in speziellen Polizeilagern ausbilden lassen, was nichts Anderes war als eine regelrechte militärische Ausbildung. Zu guter Letzt haben wir erreicht, dass das schwedische Rote Kreuz sich der dänischen und norwegischen Internierten in Deutschland, Juden und anderer, annehmen und sie nach Schweden bringen konnte. Ich habe einige dieser Briefe von jungen Leuten gelesen, die sie nach ihrer Ankunft an ihre Angehörigen zu Hause in Norwegen und Dänemark geschrieben haben, es ist ein einziger Glücksjubel. (…) Einer muss ja neutral sein, sonst würde es doch keinen Frieden geben - aus Mangel an Friedensvermittlern. (442f)

Deutschland hat Polen den Krieg erklärt. Polen ist nicht mehr das Land, das es einst mal war. Es wurden Sperrstunden eingeführt: 
Die Deutschen sprechen von ihrer >>harten, aber gerechten Behandlung<< der Polen - und die kann man sich ja vorstellen. Was für ein Hass wird entstehen! Die Welt wird am Ende so voller Hass sein, dass sie allesamt daran ersticken. (47)

Auch wenn Schweden nicht am Krieg beteiligt war, war die schwedische Bevölkerung dennoch von Angst erfüllt. Auch die Kinder stellten Fragen, ob der Krieg bis nach Schweden dringen würde. Ich selbst versuchte mir diese Angst vorzustellen …
Astrid Lindgren wunderte sich. Die Welt sei zwar kriegserfahren, lerne aber nicht aus ihren Fehlern:
An der Ostfront stehen sich die größten Massen der Weltgeschichte gegenüber. Es ist gruselig, überhaupt daran zu denken. (…) Ich habe hier in Furusund einiges über Geschichte gelesen, und das ist eigentlich eine unheimlich beklemmende Lektüre-Krieg und Krieg und  wieder Krieg und das ständige Leiden der Menschheit. Niemals lernt sie etwas daraus, sie begießt die Erde noch immer weiter mit Blut, Schweiß und Tränen. (117)

In Schweden hoffte man im ersten Kriegsjahr auf ein baldiges Ende des Krieges. Niemand rechnete damit, dass er sechs Jahre anhalten würde. Der Alltag der Schweden ging weiter, aber der Krieg, der außerhalb von ihnen weltweit tobte, prägte trotzdem den Alltag der Schweden. Das Leben aber musste weitergehen, und es ging weiter. Lars, Lindgrens Sohn, stand 1942 kurz vor seiner Konfirmation. Schweden feiert Christi Himmelfahrt. In Gedanken an ihren Sohn schreibt die verzweifelte Lindgren:
Übermorgen an Christi Himmelfahrt werden Lars und Göran konfirmiert. Kann, kann, kann denn dieser Krieg nicht bald ein Ende haben? Was für eine Zukunft erwarteten Jungen, die bald in die Welt hinaus wollen. Eine blutige, schreckliche, verwüstete, vergaste und in jeder Hinsicht elendige Welt zu erben, das ist hart. (182)

Wieder ein Kriegsjahr vergangen, und an der Lage habe sich noch immer nichts verändert. Astrid Lindgren hofft ganz verzweifelt als stille Beobachterin weiterhin auf ein baldiges Ende. Sie beschäftigt sich mit französischer Kriegsliteratur, geschrieben von Jacques Agabits. Der Autor beschreibt die Situationen französischer Kriegsgefangener, die in einem deutschen Lazarett behandelt werden:
Das ganze Buch ist voller Blut und Eiter, und ich bin so fed up, was Kriege betrifft, dass es keine Worte dafür gibt. Und wie mag es erst in den Ländern sein, wo sie all diese Schrecken täglich vor Augen haben. (241)

Sie liest Remarque, Im Westen nichts Neues, und leidet mit ihm mit. Dabei denkt sie an Lars, an ihren Sohn, welches Glück sie hat, dass ihr Sohn nicht eingezogen wurde.

Als ich es las, bin ich abends unter die Bettdecke gekrochen und habe vor Verzweiflung geweint (…) Und ich erinnere mich, dass ich dachte, wenn es noch einmal einen Krieg geben und Schweden daran teilnehmen würde, ich auf Knien zur Regierung rutschen und sie beschwören würde, die Hölle nicht losbrechen zu lassen. Lars würde ich selber erschießen, dachte ich, lieber das, als ihn in den Krieg ziehen zu lassen. Wie müssen sie leiden, die armen Mütter auf diesem wahnsinnigen Erdball. Als ich an die Besatzung der >>Ulven<< dachte und als ich Agapits Buch las, versuchte ich mir vorzustellen, Lars sei in dem gesunkenen U-Boot (…) Oder mit Fieber und Eiterwunden in einem Lazarett, und allein die Vorstellung reichte, um eine unerträgliche Seelenqual in mir hervorzurufen. Wie mag es erst für jene sein, für die es nicht nur eine Vorstellung, sondern grausame Wirklichkeit ist? Wie ist es möglich, dass die Menschheit solche Qualen durchleiden muss, und warum gibt es Krieg? Bedarf es wirklich nur weniger Menschen wie Hitler und Mussolini, um eine ganze Welt in Untergang und Chaos zu stürzen? Möge, möge, möge es jetzt bald ein Ende haben, jedenfalls mit dem Blutvergießen;

Astrid Lindgren leidet enorm unter diesen Kriegsqualen, obwohl sie ihnen nicht ausgesetzt ist. Tagtäglich setzt sie sich mit dem Krieg auseinander. Liest viel, hört Nachrichten, und verfolgt die Reden verschiedener Politiker, soweit die Sender dies zulassen: der Krieg beeinflusst weiterhin den Alltag:
Dann kommt ja noch all das andere Elend, das auf einen Krieg folgt. Großmutter ist in diesen Tagen so gesund und munter und optimistisch. Sie glaubt, dass wieder Fried´ und Freud´ herrscht, wenn der Krieg nur vorbei ist. Sie glaubt vermutlich, die Menschheit wird glücklich, sobald es nur wieder Kaffee gibt und die Rationierungen aufgehoben sind, hier wie im Ausland, aber die unaussprechlich entsetzlichen Wunden, die der Krieg geschlagen hat, werden nicht mit ein bisschen Kaffee geheilt. Der Frieden kann den Müttern nicht ihre Söhne zurückgeben, Kindern nicht ihre Eltern, den kleinen Hamburger und Warschauer Kindern nicht das Leben. Der Hass ist nicht zu Ende an jenem Tag, an dem der Frieden kommt, jene, deren Angehörige in deutschen Konzentrationslagern zu Tode gequält wurden, vergessen nichts, nur weil Frieden ist, und die Erinnerung an Tausende von verhungerten Kindern in Griechenland wohnt immer noch in den Herzen ihrer Mütter, falls die Mütter selbst überlebt haben. Alle Invaliden werden weiter herumhumpeln, auf einem Bein oder mit einem Arm, alle, die ihr Augenlicht verloren haben, sind noch genauso blind, und jene, deren Nervensystem durch die unmenschlichen Panzerschlachten zerstört wurde, werden auch nicht wieder gesund, nur weil Frieden ist. Trotzdem, trotzdem - möge bald Frieden werden, damit die Menschen allmählich wieder zur Vernunft kommen. (242)

Das Ende des Krieges, wie soll man sich das Ende vorstellen? Oder der Frieden? Astrid Lindgren stellt sich viele Fragen und findet nicht so leicht eine Antwort.
Und dennoch - wie soll der Frieden aussehen, was aus dem armen Finnland werden? Und wird der Bolschewismus mit allem, was er an Terror und Unterdrückung beinhaltet, freien Spielraum in Europa bekommen? Die, die ihr Leben bereits im Krieg verloren haben, sind womöglich die Glücklicheren. (243)

Sie schreibt über eine Rede von Goebbels:
>>Wir glauben an den Sieg, weil wir den Führer haben! Wenn mir heute auf den Führer schauen, so sehen wir gerade in ihm die Garantie dieses kommenden Endsieges. Wir wissen ganz genau, dass die weltentscheidende Auseinandersetzung dieses Krieges zwischen dem nationalsozialistischen Reich und der bolschewistischen Sowjetunion fallen wird.(…) So wollen wir in dieser dramatischen Stunde unseres Gigantenkampfes gegen unsere alten Feinde nur die eine Bitte an den Allmächtigen richten: uns den Führer gesund und voll von Kraft und Entschlussdeutlichkeit zu erhalten! Wir wissen, dass wir dann alle Gefahren überwinden und am Ende Sieg und Frieden erringen werden. So rufe ich denn dem Führer im Namen des ganzen deutschen Volkes für den schwersten Kampf um unsere äußere Freiheit unsere alte Parole als Bestätigung unserer zu allem entschlossenen Bereitschaft zu: Führer, befiel, wir folgen! (315)


Mein Fazit zu dem Buch?

Der Titel Die Menschheit hat den Verstand verloren hat es voll getroffen. Es kann niemals der gesunde Menschenverstand sein, der Kriege befürwortet ... 
Wenn ich die Politik heute mit der von damals vergleiche, dann bekomme ich schon ein wenig Gänsehaut, dass sich so eine Lage wiederholen könnte. Früher schrie die Mehrheit der Menschen, Deutschland müsse judenfrei werden, heute schreit sie, Deutschland müsse islamfrei werden. Viele haben gar nicht verstanden, dass es nicht der Islam ist, der die Probleme unter den Menschen verursacht, sondern die Fundamentalisten, die sogar ihre eigenen Landsleute in Lebensgefahr bringen, wenn sie nicht deren religiösen Ideologien befolgen. Ist der Mensch in Deutschland auch heute nicht in der Lage, zu differenzieren? Das hoffe ich nicht. Aber wenn ich nach Österreich schaue, und heute sogar nach Holland, in dem ein neuer Ministerpräsident gewählt wurde, dann haben sich die meisten NiederländerInnen doch gegen den Rechtspopulisten Geert Wilders und für den rechtsliberalen Mark Ruppe entschieden. Das macht mir Hoffnung. Auch in Österreich gewann 2016 völlig unerwartet Alexander Van der Bellen die Bundespräsidentenwahl ... 

Ich stellte mir wiederholt beim Lesen die Frage, welche Auswirkungen es in Deutschland und in Europa gehabt hätte, wenn Hitler als Sieger aus den Kriegen geschieden wäre? Ich werde niemals eine Antwort darauf finden, aber ich kann hoffen, dass es nie wieder einen Weltkrieg geben wird, und dass es in allen Ländern, in denen gerade Bürgerkriege herrschen, diese dort bald ihr Ende finden werden.

Astrid Lindgren war zu dieser Zeit, als sie ihr Kriegstagebuch geschrieben hat, noch keine Schriftstellerin, wobei die Figur Pippi Langstrumpf durch die Tochter Karin in hohem Fieber schon geboren wurde. Dass Astrid Lindgren begabt ist zu schreiben, zeigt schon dieses Tagebuch, das neben ihrem Intellekt auch zusätzlich mit so viel Seele gefüllt ist.

Ich vergebe diesem Buch zehn von zehn Punkten.

Und hier geht es zu Annes Buchbesprechung.
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Liebe für alle.
Hass für keinen.
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Gelesene Bücher 2017: 10
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86


Dienstag, 7. März 2017

Astrid Lindgren / Die Menschheit hat den Verstand verloren

Tagebücher von 1939-1945


Lesen mit Anne


Klappentext
»Man muss daran verzweifeln, wie wenig die Menschheit in den vergangenen Jahrtausenden gelernt hat.« Astrid Lindgren Astrid Lindgren hat unsere Kindheit geprägt. Mit Pippi Langstrumpf und Wir Kinder aus Bullerbü hat sie unseren Blick auf die Welt verändert. Ihre Geschichten handeln von Mut, Hoffnung, Liebe und Widerstand. Jetzt liegen zum ersten Mal die Tagebücher vor, die sie während des Zweiten Weltkriegs geführt hat. Schon früh ist ihr klar, dass danach nichts mehr so sein wird wie zuvor. Ein faszinierender Einblick in die entscheidenden Jahre der berühmten Schriftstellerin.


Autorenporträt
Astrid Lindgren (1907-2002) ist die wichtigste Kinderbuchautorin des 20. Jahrhunderts, Pippi Langstrumpf, Michel aus Lönneberga, Karlsson vom Dach, Ronja Räubertochter und Die Brüder Löwenherz sind Klassiker, die bereits von mehreren Generationen von Kindern und Eltern gelesen wurden. Sie überwinden mühelos die Grenzen von Alter, Geschlecht, Herkunft und Politik. Astrid Lindgrens Bücher wurden in über 96 Sprachen übersetzt und haben sich mehr als 150 Millionen Mal verkauft. Neben ihrer Tätigkeit als Autorin hat sie sich stets für Rechte von Kindern eingesetzt. 


Weitere Informationen zu dem Buch

Ich besitze die gebundene Ausgabe, aber mittlerweile gibt es schon die Taschenbuchausgabe.

·         Internationale Literatur
·         Taschenbuch
·         Broschur
·         592 Seiten, 14,00 €
·         Krigsdagböcker 1939–1945
·         Aus dem Schwedischen übersetzt von Angelika Kutsch, Gabriele Haefs.
·         ISBN-13 9783548288697
·         Erschienen: 18.11.2016


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